Lesezeit: etwa 10 min

 

Wer in Dortmund-Somborn, von Norden kommend, die Bahngleise unterquert und die Langendreerstraße hinunter wandert, der gelangt nach einer langgezogenen Linkskurve zu einer kleinen Seitenstraße mit dem Namen „Am Paternoster“. Es war die Nacht des 12. Januar 2021 und wohl 20 Minuten lang hatte es gerade geschneit als ich an dieser Abbiegung ankam. Keine Autos und keine Fußgänger um diese Zeit kurz vor 0.00 Uhr, Asphalt und Gehwege leicht bedeckt vom Schnee wie mit Puderzucker, die Gegend in lautloser Stille.

Was für ein Unsinn, hierher zu kommen wegen einer ominösen Mail heute morgen: "„Komm um 0.00 Uhr heut Nacht/ Zu „Am Paternoster Acht“" war die Botschaft gewesen, Absender? Ein Fake- Absender. Die Adresse aber hatte mich neugierig gemacht und wider alle Vernunft hatte ich beschlossen hinzugehen. An der Ecke angekommen ließ ich meine Blicke wandern – und traute meinen Augen nicht: frische Schuhabdrücke, die von Süden kommend in die Paternosterstraße einmündeten, Abdrücke von einer Größe von mindestens 56 ... Konnte das sein ... war sowas möglich? Trotz aller Bedenken siegte die Neugier, ich folgte den Spuren im Schnee, vorbei an den Wohnhäusern, es waren lediglich fünf, dann keine Häuser, keine Hausnummern mehr, die Spuren führten weiter in ein kleines Wäldchen um eine stämmige Eiche herum und schienen dahinter zu enden. Klopfenden Herzens blieb ich stehen.

Der schneebedeckte Waldboden glänzte im Schein des Mondlichts, ein Rabe krächzte. Da trat eine riesige Gestalt im Gegenlicht plötzlich hinter der Eiche hervor, gut Zweimeterzehn mit rötlich-braunem langem Haar und Bart, die Hände lässig in den Hosentaschen seines weißen Leinenanzugs.

„Richard ... Richard Yéti!“ stammelte ich verblüfft.

„Die Aussage ist sachlich richtig“ erwiderte die Gestalt mit amüsiertem Grinsen, der Autor so mancher Texte in dieser Randspringer-Rubrik. „Hallo Udo“.

„Aber, aber wie ist das ...“

„ … möglich, wo ich doch im März 2018 bei einem Flugzeugabsturz in Kathmandu ums Leben gekommen bin, wie du brav auf eurer Vereinshomepage berichtet hast? Ich danke übrigens im Namen der Familie für die anteilnehmenden Zeilen, die ein prominentes Vereinsmitglied damals in einer Mail an dich formuliert hat und die du meiner Familie übermittelt hast, du erinnerst dich?“. Er zog ein Blatt Papier aus der Hosentasche und las:

„Hallo Udo,
mit Bestürzung habe ich durch Deinen Text vom überraschenden Ableben
unseres Gastautors und Asiensonderkorrespondenten Richard Yéti - alias
Thomas Ghose-Winterhagen - erfahren. Sein gewaltsamer Tod reißt eine
entsetzliche Lücke in das zarte Flechtwerk schachbrettübergreifender
Texte unseres Randspringerbereichs. Mein aufrichtig empfundenes Beileid
gilt in erster Linie jedoch seiner hinterbliebenen Frau und den beiden
Kindern, denen Mann und Vater so abrupt entrissen wurde. Mögen sie -
vielleicht vom spirituellen Geist dieses Weltenreisenden inspiriert -
die Kraft finden, den Schmerz über den Verlust des leibhaftigen Menschen
zu überwinden und Trost in der Gewissheit der Allgegenwart alles je
Gewesenen zu erhalten.
Solltest Du noch den zarten Hauch eines Kontaktfadens zur Familie des
Verstorbenen haben - eine Postlageradresse in Dhaka, das
Lost-and-Found-Büro im Flughafen Kathmandu, ... - so richte meine
Anteilnahme doch bitte aus.
Zutiefst erschüttert

…....

 

„Ist das nicht wirklich schön formuliert?“ fragte Richard begeistert. “Meine Familie und ich waren richtig gerührt! Fast fühlt man sich aber auch ein bisschen schuldbewusst – etwa wie der durchtriebene Tom Sawyer im gleichnamigen Buch von Mark Twain, der, scheinbar durch Ertrinken zu Tode gekommen, seine eigene Beerdigungstrauerfeier beobachtet und seine Tante Polly herzzereißend weinen sieht.

- Aber wie ist es nun zu dieser kleinen Schummel-Aktion gekommen? Um es kurz zu machen, ich bewege mich beruflich auch auf dem Felde der Diplomatie, von dort aus wiederum ... man denke nur an den vielzitierten Begriff des „Kulturattachés“ und seiner Bedeutungskonnotationen ... von dort aus kommt man zu Tätigkeitsfeldern, bei deren Ausübung hin und wieder kleine Täuschungsmanöver nötig sind ... aber das soll heute nicht unser Thema sein ... nur eins noch: In meinen letzten beiden Texten, die dir von meiner Familie aus meinem vermeintlichen Nachlass zugespielt worden waren, habe ich ja am Ende genügend Hinweise und sachdienliche Ankündigungen hinterlassen:

Phoenix (aus der Asche)-Ost, die Entrückung vom Gasometerturm auf Phoenix-West und der Hinweis, in den „Kalender“ zu sehen, was ganz wörtlich zu verstehen war, nämlich in den wenige Zentimeter weiter abgedruckten Homepagekalender. Wenn man da den 01.04.2018 und den 10.05.2018 anklickte, konnte und kann man heute noch die von mir eingefügten Worte Ostersonntag und Christi Himmelfahrt lesen, aber diese Mühe hat sich wahrscheinlich niemand gemacht, wohl auch nicht der Wächter über die Homepage, dem ansonsten auf seinen „nächtlichen Streifzügen“ keine Veränderung entgeht“.

Richard räusperte sich kurz, dann zog er eine kleine Wasserflasche aus der Jackentasche seines Leinenanzugs, nahm einen Schluck und fuhr fort:

„Übrigens gab es auch einen Leserbrief zu meinem kleinen Bahnhofshappening nach unserem Interview im Dezember 2017, geschrieben von einem weiteren prominenten Vereinsmitglied. Er trägt die Überschrift

"Großer Bahnhof für kleine Torheiten“ Ich lese ihn einfach mal vor:

„Im Artikel „Richard Yéti – ein Interview“ vom 01.01.2018 auf der Randspringer-Seite unserer Vereinshomepage wirft einer der Protagonisten gegen Ende des Textes die Frage auf, für welches „h“ in der Abkürzung „Bhf“ (für Bahnhof) denn das verwendete „h“ stehe, für das erste oder für das zweite „h“. Als – wenn auch vielbeschäftigter - Deutschlehrer fühle ich mich herausgefordert, meine heutige große Pause gleichzeitig zu nutzen wie zu opfern, um zu versuchen, in dieser Frage Klärung herbeizuführen, wobei dies angesichts der Knappheit der mir zur Verfügung stehenden Zeit in aller Eile und dadurch unter Hintanstellung etwaiger orthografischer oder stilistischer Bedenken zu geschehen hat, wie ich betonen möchte.

Der Protagonist im oben genannten Artikel verweist zu Recht auf die eindeutige Zuordnung der Buchstaben in der Abkürzung „Hbf“ für Hauptbahnhof, wo für jeden Buchstaben der Abkürzung nur ein einziger Buchstabe in der Langform in Frage kommt. Dies ist wie oben geschildert bei der Abkürzung „Bhf“ nicht der Fall. Es ist nun möglich, dieses Kürzel „Bhf“ als so etwas wie ein literarisches Elementarteilchen zu verstehen. Die Deutung einer solchen - im wenn auch bescheidenen Umfang – künstlerischen Lebensäußerung gehört zu den schwierigsten Aufgaben, mit denen sich die Literaturwissenschaft zu beschäftigen hat. Im Vordergrund stehen dabei Fragen, die laienhaft wie folgt wiedergegeben werden können: „Was hat sich der Dichter dabei gedacht?“ oder „Was will uns der Künstler damit sagen?“

Im vorliegenden Fall liegen jedoch meiner Einschätzung nach die Dinge anders: Nachdem meines Wissens 1835 die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth gesteuert wurde, trat irgendwann die Frage auf, wie man platzsparend die Reisenden an den Bahnhöfen auf Schildern über die Existenz eines Bahnhofes oder die Einfahrt in einen solchen informieren könne. Irgendjemand entschied sich für die Abkürzung „Bhf“. Das möglicherweise komplizierte Seelenleben dieses damaligen Dichters ist hierbei ohne Belang (erstes h oder zweites h?), denn entscheidend ist die objektive Wirkung des Kürzels „Bhf“ und seine offensichtlich leichte Erkenn- und Deutbarkeit (man vergleiche es etwa mit dem auch möglich gewesenen Kürzel „Bnf“). Ohne an dieser Stelle noch Ludwig Wittgenstein bemühen zu wollen, lässt sich vielleicht abschließend die philosophisch interessante Feststellung machen, dass gerade die Doppeldeutigkeit (erstes oder zweites h) die Eindeutigkeit des Erkennens befördert. Insofern wäre die letztlich beste Antwort auf die Frage, welches der beiden „h“ in Bhf“ denn gemeint sei, wohl: beide!

All diese Überlegungen aber nun ad hoc oder stante pede von einer Sicherheitsfachkraft der Deutschen Bahn einzufordern, wie es der Protagonist Richard Yéti in doch meines Erachtens etwas impertinenter Form getan hat, hieße wohl – ohne den Betreffenden zu nahe treten zu wollen – sie zu überfordern.

Im übrigen erlaube ich mir zum Schluss die Frage, ob diese Debatte nun wirklich nötig war. Haben wir etwa keine anderen Probleme auf dieser Welt?“

 

„Sehr gut, nicht wahr?“ Richards Augen leuchteten halb begeistert, halb belustigt. „Das nenne ich mal einen engagierten mutmaßlichen Oberstudienrat! Man sieht, es gibt für jedes sprachliche Auslegungsproblem eine Lösung ….“

„Ja, wirklich nicht schlecht. - Jetzt wird sich ein etwaiger aufmerksamer Leser natürlich fragen, wieso hast du diesen Leserbrief in den Händen und nicht ich und wieso wusste ich nichts davon … und geduzt hatten wir uns im Dezember 2017 auch noch nicht.“

„Mag sein …" Richard gähnte ein wenig. „Es gibt eben Dinge, die bleiben auf ewig ein Mysterium, ist aber nicht so wichtig. Und außerdem: dieser Leser … oder diese Leserin... wie du schon gesagt hast: sie müssen „etwaig“ und „aufmerksam“ gleichermaßen sein, im Zusammenhang mit unseren Texten wohl eine sehr seltene species“.

„Aber jetzt mal im Ernst, wie soll ich denn den Leser Doppelpunkt innen vermitteln, dass du doch noch ... soll ich dir jetzt vielleicht die Hand in die Seite legen, wie der ungläubige Thomas das beim auferstandenen Jesus gemacht hat?“

„Nicht nötig, hab ja keinen Stich mit dem Speer abbekommen ... nein, du siehst mich ja hier lebendig vor dir stehen, das muss genügen, auch ohne ein Selfie oder sonstigen neumodischen Kram. Ich bin auch nur ganz kurz auf dem Sprung hier, auf einem Abstecher von Verwandtenbesuchen in Pirmasens und hier in Dortmund – und das auch nur, um neben dem Beweis meiner weiteren Existenz zwei neue Artikel anzukündigen: einen über Atome und Weizenkörner und einen über das Opfer beim Schach und im richtigen Leben, kann aber noch ein paar Monate dauern, bis ich sie dir zuschicke. Also: Gehab dich wohl! Siehst du übrigens das Eichhörnchen da oben auf dem Zweig, es behält dich im Auge!“

Ich blickte nach oben, sah tatsächlich ein Eichhörnchen gerade hinter dem Stamm einer Eiche hervorlugen, senkte den Blick zurück auf Richard Yeti – doch der war verschwunden. Ohne Laut, ohne Spuren – und von jetzt auf gleich waren alle seine Fußabdrücke einfach weg, der unentwegt fallende Schnee tat sein Übriges. Verwirrt sah ich mich um in dem kleinen Gehölz „Am Paternoster 8“, doch die einzigen sichtbaren Fußspuren blieben nur meine eigenen. Tief in Gedanken versunken wanderte ich schließlich in nächtlicher Stille nach Hause zurück.

 

 

 

 

 

Wir benutzen Cookies
Cookies optimieren die Funktion dieser Website. Mit dem Besuch unserer Homepage geht das Einverständnis in die Verwendung von Cookies einher.