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Schier unerreichbar hoch ragte die Spitze des Nordturms in den strahlend blauen New Yorker Himmel, als heute vor zwanzig Jahren, am elften September 2001, nur sechs Minuten nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs oberhalb des 90. Stockwerks, Feuerwehrautos auf das Gebäude zurasten, Lenny Ragaglia und seine Kollegen von der Feuerwache 54 aus ihren Fahrzeugen heraussprangen und nach oben blickten.

 

Die „Fire Fighters“, wie sie in den USA genannt werden, wussten sofort, dass eine schier unlösbare Aufgabe vor ihnen lag. Ihre düstere Ahnung trog sie nicht: Zwar wurde sehr schnell im Foyer des Turms von der Einsatzleitung entschieden, dass wegen des kompletten Ausfalls aller Fahrstühle eine Brandbekämpfung vor Ort, hoch oben, als aussichtslos zu verwerfen sei - es wäre nicht möglich gewesen, früh genug als Feuerbekämpfer mit schwerem Lösch-Gerät und Atemmaske zu Fuß über die Treppen zum Brandort empor zu klettern um vor Ort dort oben noch etwas zu erreichen, fernab auch der Reichweite jeder Drehleiter natürlich. Wenn man so will: Mit dieser Entscheidung waren die ersten Personen, die sich in den brennenden Stockwerken und oberhalb davon befanden, zum allergrößten Teil „geopfert“ worden, die Einsatzleitung konzentrierte sich auf realistischere Ziele nämlich die Rettung der Personen unterhalb etwa des 90. Stockwerks durch Evakuierung. Wie auch immer: Alle Feuerwehrleute vor Ort wussten von Anfang an um die außergewöhnliche Gefährlichkeit dieses bevorstehenden Einsatzes, die folgenden Ereignisse gaben ihren Befürchtungen leider Recht: 343 verloren ihr Leben, unter ihnen auch Lenny Ragaglia – sei es unmittelbar durch den Einsturz der beiden Türme des World Trade Centers oder in der Folgezeit durch Krebs oder Lungenerkrankungen aufgrund der folgenden Rettungseinsätze am Boden, weitgehend ungeschützt giftigen Dämpfen und Stäuben ausgesetzt in den Stunden und Tagen und Wochen danach.

 

Feuerwehrleute, Polizisten – im geringeren Maße auch Ärzte, Rettungssanitäter und Pflegekräfte – sie alle haben eine sogenannte Garantenpflicht aufgrund der Garantenstellung, die sie in der Regel arbeitsvertraglich und damit freiwillig übernommen haben. Wie jeder und jede von uns haben sie im Notfall zunächst Erste Hilfe zu leisten, solange sie dabei nicht ihr Leben oder ihre Gesundheit in Gefahr bringen. Die Anforderungen und Zumutungen, die die Gemeinschaft von Ihnen erwartet, sind jedoch höher – aufgrund ihrer Professionalität, ihrer in der Regel erhöhten Fitness und ihrer besseren Einschätzung einer Gefährdungslage. Aber auch für sie gilt der Grundsatz: „Nemo ultra posse obligatur – Von niemandem kann etwas verlangt werden, was er nicht zu leisten vermag“. Bleiben sie jedoch deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück, so kann dies strafrechtliche Konsequenzen haben (Anklage wegen Totschlags durch Unterlassen statt nur wegen unterlassener Hilfeleistung wie beim Laien), dienstrechtliche (wie Abmahnung und Entlassung) und auch soziale (wer in Gefahr jedes Risiko zu scheuen versucht, ist bei den Arbeitskollegen schnell „unten durch“). Die in Manhattan ums Leben Gekommenen jedenfalls haben das Risiko nicht gescheut und einen tödlichen Ausgang für sich bewusst in Kauf genommen. Sie haben ihr Leben letztlich geopfert für einen höheren Zweck – für die tatsächliche und versuchte Rettung einer Unzahl von in Not Geratenen.

 

Gegenüber Heldentaten wie diesen muten die „Opfer“, die wir Schachspieler bringen, geradezu läppisch an, denn das eigene Wohlergehen oder gar Leben für einen höheren Zweck opfert der Schachspieler selbstredend nicht. Lediglich kleine Figuren aus Holz oder Plastik schickt er ins vorübergehende Seiten-Aus, der nur verbal kommentierende Kiebitz sogar ohne Skrupel die Steine auf fremden Spielbrettern, dies fällt bekanntlich am wenigsten schwer – jedoch (und deshalb diese ein wenig befremdlich wirkende Parallelziehung) ist das Prinzip dasselbe: Im richtigen Leben verlieren und opfern zum Beispiel Soldaten das ihrige entweder quantitativ nach dem Mehrheitsprinzip (wir 10.000 für die 1.000.000 zuhause) oder qualitativ für mutmaßlich Höherwertiges (die Bienen für ihre Königin, der einfache Wolf für seinen Rudelführer oder der Schütze A. für seinen dekadenten König). Es geht um „Queen and Country“, die Ehre des Vaterlandes oder die tatsächliche oder vermeintliche Verhinderung der Versklavung der eigenen Nation oder Volksgruppe.

 

Interessant ist, dass beim Schach die Spielsteine das individuelle konkrete Leben zu verkörpern scheinen und die anderen Kategorien wie Raumvorteil und Entwicklung eher abstrakt, wie eben ein höherer Zweck daherkommen. Wer nun Material opfert – seien es Bauern, Springer, Läufer, Turm oder Dame (sogar das Opfern des Königs ist in dieser Rubrik schon in Erwägung gezogen worden, s. „Matt ist Matt“) - der übt bei einem korrekten Opfer letztlich keinen Verzicht, er eliminiert nicht, sondern wandelt um – entweder Material in Raumvorteil, in Entwicklung oder sogar im Idealfall sofort in das letzte, das höchste Ziel des Schachs, des Mattsetzens des gegnerischen Königs. Bekanntlich erscheint das Damenopfer mit folgendem Matt dem Laien als das spektakulärste, während dem Kenner auch Opfer sehr munden, die am Ende nur zu einer positionellen Gewinnstellung führen. Sehr beliebt im Auge des Betrachters sind auch Opferkaskaden, wo der Opfernde vielleicht erstmal in der Brettmitte seine Leichtfiguren zur Ablenkung gegnerischer Verteidiger hergibt, dann mit permanenten Schachgeboten auf der offenen h-Linie seine Grundreihe von seinen Schwerfiguren entrümpelt um am Ende dem im Eck eingekerkerten feindlichen König mit seinen zwei allerletzten Bäuerlein den Garaus zu machen.

 

Kommen wir nun – ein scheinbar harter thematischer Bruch – zum weltgeschichtlich spektakulärstem Opfer, nämlich dem tatsächlichen oder vermeintlichen Tode Jesu Christi am Kreuz und seiner ebenso zu attributierenden Auferstehung.

 

Etwa folgende oft geäußerte Ansichten zu diesem Thema sind aus meiner Sicht legitim und vertretbar:

1. Eine körperliche Auferstehung ist aus naturwissenschaftlicher Sicht unmöglich, eine Umgehung oder Überwindung der Naturgesetze ebenso, somit ist dieses Thema für mich ohne Belang – außerdem gibt es Hinweise, wonach Jesus heimlich vor seinem Tod von seinen Jüngern vom Kreuz abgenommen wurde und anschließend noch ein langes Leben in Indien bei den Essenern verbrachte oder dergleichen mehr.

2.  Vielleicht mag tatsächlich aus welchen Gründen auch immer eine körperliche Auferstehung geklappt haben, ist für mich aber egal, ich zahle immer pünktlich meine Steuern, trenne meinen Müll, parke nicht auf Frauen- oder Behindertenparkplätzen und tue auch sonst nichts Böses: also sorry, Jesus, danke für´s Angebot – aber für meine angeblichen Sünden hättest du nicht zu sterben brauchen.

3. Mit der tatsächlichen Kreuzigung und Auferstehung von Christi ist das Göttliche in die sonst der Vergänglichkeit („der Sünde Sold ist der Tod“, Römer 6,23) anheimgegebene materielle Welt eingetreten und hat sie und alle Annahmewilligen erlöst für alle Zeit.

4.  Der Lebensweg Christi (als einer von mehreren hochentwickelten Welten- und Weisheitslehrern) läßt sich wie ein Schauspiel, wie eine Inszenierung begreifen, die die künftige Bestimmung eines jeden Menschen auf seinem Weg zur Wiedervereinigung mit dem Unwandelbaren mit seinen Prüfungen und Anfechtungen vorwegnimmt – die in der Bibel beschriebenen Ereignisse sind dabei als mythologische Beschreibung zu verstehen, also als eher symbolhafte Darstellung geistig-spiritueller Phänomene. Gott hätte nach diesem Verständnis zwar seinen „eingeborenen“ Sohn gegeben, aber nicht im Sinne seines Einzigen, sondern etwa seines Erstgeborenen, auf dessen Weg viele weitere folgen sollen. Entscheidender Gesichtspunkt bei dieser Sichtweise ist die bildhafte Illustrierung der Aufgabe des eigenen beschränkten persönlichen Ichs (durch die Kreuzigung), die den Weg in die Befreiung zum eigenen Höheren Selbst (die „Auferstehung“) erst ermöglicht.

Das ich – Richard Yéti – für die Position 4) die meiste Sympathie entwickeln kann, dürfte keine Überraschung sein.

Die Position 3) zu bewerten will ich mir nicht anmaßen, dazu ist das Thema zu groß, das Angesprochene zu elementar und das eigene Verständnis dieser vertretenen Position vielleicht nicht tief genug. An folgenden Schlussfolgerungen kommt dann jedoch niemand vorbei: Im Vergleich der 5 oder 6 Weltreligionen gibt es damit kein gleichberechtigtes Nebeneinander mehr. Das Christentum liegt bei dieser Betrachtungsweise dann mit seinem Alleinstellungsmerkmal („Wir haben den (alleinigen) Welterlöser als unseren Religionsstifter“) im Ranking auf Platz 1, das erzeugt Neid, Verdruss (Hass und Häme würde man heute sagen) und Widerspruch – jedenfalls unter den unreiferen Vertretern der anderen Religionen. Die religionsgeschichtlichen Folgen sind bekannt: heftige Rivalität vor allem unter den drei abrahamitischen Religionen – in order of appearance: Judentum, Christentum und Islam – wobei sich Christentum und Islam, jedenfalls in ihren weniger gemäßigten Ausprägungen, am aggressivsten gebärden. Selten wurde es unternommen, die vorhandenen Unterschiede zu glätten und zu relativieren, wie es etwa Lessing im „Nathan der Weise“ in der Ringparabel getan hat. Auf die drei „östlicheren“ Weltreligionen wiederum, also Hinduismus, Buddhismus und chinesischer Universismus, wurde lange Zeit von den oben genannten westlicheren ob ihrer vermeintlich geringeren Lebenstüchtigkeit ihrer Anhänger herabgesehen, bis diese Glaubensströmungen ab den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zumindest in gewissen Kreisen der westlichen Bevölkerung eine spirituelle Aufwertung erfuhren.

 

Da wir gerade bei Abraham waren: Dieser war bekanntlich (vgl. 1. Moses 22, 13 ) bereit, seinen eigenen Sohn für Gott zu opfern, in letzter Sekunde musste allerdings lediglich ein Hammel sein Leben lassen. Damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt des Opfers, dem Aspekt des Freiwilligen oder Unfreiwilligen: Man kann wie oben genannt freiwillig Opfer bringen (Tieropfer oder Menschenopfer von Feinden, um die „Götter gnädig zu stimmen“), also entweder äußere Objekte oder Subjekte oder auch sich selbst.

 

Den unfreiwilligen Aspekt des Opfers erlebt man täglich auf unseren Schulhöfen: „Los, gib mir dein Scheiß-Handy, du Opfer!“. Es gibt Opfer von Intrigen, von Verbrechen, von Naturgewalten. Auch die Betroffenen der verheerenden Flut im rheinlandpfälzischen Ahrtal waren in allererster Linie passive unfreiwillige Opfer, von dem kühnen Baggerfahrer, der unter Einsatz seines Lebens den Abflusskanal eines zu bersten drohenden Staudammbeckens deeskalierend wieder freilegte, und ähnlichen Anderen einmal abgesehen. Hält man sich die drohende Klimakatastrophe vor Augen, so kann man aber auch folgende Sichtweise an den Tag legen: Selbstverständlich ungewollt, unbeabsichtigt haben diese bedauernswerten Betroffenen für uns alle in Deutschland, in Mitteleuropa ein Opfer dargebracht, indem ihr Leid und ihr Elend uns die Augen dafür öffnet, dass die Folgen der Klimakrise nicht nur ein Thema der Dritten Welt bleiben, sondern auch vor unserer eigenen Haustür nicht haltmachen wird und wir – schon aus egoistischen Gründen – ernsthafteste Anstrengungen zu Co2-Neutralität usw. unternehmen müssen.

 

Im Gedächtnis haften bleibt allerdings meist der freiwillige Verzicht, der Heldenmut und die Opferbereitschaft von einzelnen Individuen: Die Hungerstreiks von Mahatma Gandhi, die der politischen Versöhnung von Hindus und Muslimen dienen sollten; die Bereitschaft des polnischen Franziskaners Maximilian Kolbe, 1941 in Auschwitz im Austausch für einen Familienvater in den berüchtigten Hungerbunker Block 11 zu gehen und der späteren Ermordung entgegen zu sehen; die Geschwister Scholl und ihr Widerstandskreis; Covid-Patienten, noch Herr ihrer Sinne und artikulierfähig, die ihren Platz auf der Intensivstation oder den Zugang zu einem raren Hilfsgerät an jüngere oder lebenshungrigere Mitpatienten „abtreten“. Und nicht zuletzt der Gedanke an die Alexei Nawalnys, die Marija Kolesnikowas, die Joshua Wongs, die Steve Bikos, die Victor Jaras dieser Welt - politische Aktivisten – mögen ihre persönlichen politischen Weltanschauungen im Einzelfall auch nicht immer unbedenklich sein – in Russland, in Belarus, in Hongkong, Südafrika, Chile, China, Syrien oder der Türkei, oft eingesperrt in Kerkern unter teils widrigsten Lebensbedingungen (eine blutleere abstrahierende Umschreibung, aber jeder kann sich vorstellen, was gemeint ist), an die Umweltaktivisten in den brasilianischen Regenwäldern wie Chico Mendez, an all jene auch, die als Journalisten, als Fotoreporter große persönliche Risiken und Nachteile bis hin zum Tod bei dem Versuch auf sich genommen haben, mit ihrer Berichterstattung die Missstände dieser Welt aufzudecken, um ebendiese Welt vielleicht doch noch einmal zu einem besseren Ort zu machen: Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt und ihres persönlichen Opfers gedacht.

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