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Nahezu jeder Schachfreund hat schon mal von der Weizenkornlegende gehört, der Verdoppelung der dem Erfinder des Spiels von seinem König geschenkten Körner auf jedem neuen Feld eines Schachspiels: 1-2-4-8-16-32 und so weiter, sehr schnell wächst die immerwährend verdoppelte Zahl ins „Unendliche“. Mit dieser Legende soll unter anderem auch die Vielzahl der möglichen Züge und Partien illustriert werden. Und in der Tat: Gemäß Berechnungen Fachkundiger soll es „nur“ 10 hoch 86 Atome im Weltall geben, die Anzahl möglicher regelgerechter Partien dagegen 10 hoch 120 betragen, mithin ein unermesslich Vielfaches, ein Umstand, welcher jeden Spieler, der dies zum ersten Mal hört, sicherlich in Erstaunen versetzt. Die meisten von ihnen werden jedoch nur kurz innehalten und alsdann wieder ihren Tagesgeschäften nachgehen statt einmal zu untersuchen, was genau man denn da miteinander vergleicht - was wir im Folgenden tun wollen.

 

Holen wir ein wenig aus: Milliarden Jahre ist es her, seit sich im Urschlamm der Erde die ersten Aminosäuren als Vorstufe für das bildeten, was wir Leben nennen. Die Jahrmillionen dümpelten dahin, irgendwann trat der Homo sapiens auf den Plan und erfand vor gut 1500 Jahren das Schachspiel. Seit dem vorigen Jahrhundert ist er in der Lage, die mutmaßliche Größe des Weltalls wahrzunehmen und zu berechnen. Auch Computer helfen ihm bei der Berechnung der Anzahl möglicher Schachpartien einerseits und der Anzahl im Weltall existierender Atome andererseits, das ungefähre Ergebnis habe ich oben mitgeteilt.

 

Was ist nun das Erstaunliche bei dem Vergleich beider Zahlen? Doch wohl der ungeheure Kontrast, der sich ergibt aus der unfassbaren Größe des Alls und damit auch der ebenso unfassbaren Zahl eines seiner kleinsten Bausteine (die sub-atomaren Elementarteilchen bleiben hier einmal außen vor) einerseits und  den Möglichkeiten, die auf einem sehr, sehr kleinen Teilausschnitt dieser Gesamtstruktur entstehen, einem Teilausschnitt, welcher in der Regel kaum mehr als 50 x 50 Zentimeter an Fläche einnimmt, andererseits.

Doch was vergleichen wir, sind es nicht bildlich gesprochen Äpfel und Birnen? Atome im Weltall – dies ist eine sehr einfache Struktur, die sich durch eine riesige Menge gleicher oder ähnlicher Elemente auszeichnet – die Unterschiede liegen in der Größe der Atome. Es handelt sich also ausschließlich um eine Frage der Quantität in der Kategorie Raum – und auf diese Frage eine Antwort zu erreichen durch reines Zählen wäre sicherlich noch in den 1920iger Jahren eine schöne Aufgabe für einen zu 830 Jahren Haft verurteilten Jung-Mafioso mit geringem IQ gewesen, dem man nach erfolgreichem Abschluss dieser Arbeit ein paar Knast-Vergünstigungen in Aussicht gestellt hätte. („Jeden Mittag eine doppelte Portion Spaghetti? Bin dabei, Chefe! Wo soll ich anfangen?“ - Fang einfach in der linken unteren Zellenecke an, Salvatore … und lass dir vorher vom Doc ´ne Brille verpassen, capice? So ein Atom is ziemlich klein und schwer zu sehen.“ “ Oh jeh, wird ja ganz schön lange dauern, wenn so viele sind und wie zähl ich die ganzen kleinen Dinger denn da draussen?“ „Zähl erstmal hier im Block und in der Anstalt … wenn du damit fertig bist, reden wir über Freigang für dich … „ „Freigang? Oh, toll!“ „Genau, wird aber ´nen bisschen dauern, Salvatore … Und was die Menge angeht, du weißt doch, is wie beim Hof-Fegen: Wenn du erstmal angefangen hast, die ersten 10 mal 10 Meter, dann bleibt bald weniger übrig als du denkst, schaffst du schon!“) Nun, Mathematiker und Computer haben ab den 1920iger Jahren unseren Salvatore entbehrlich und damit ein solch einträgliches Zubrot leider zunichte gemacht. (Es hätte zudem auch deutlich mehr solcher Knast-Insassen für einen annähernd erfolgversprechenden Zählversuch bedurft, als die gesamte „ehrenwerte Familie“ weltweit jemals zu stellen in der Lage wäre.)

 

Auf der anderen Seite die Anzahl möglicher Partien auf einem Schachbrett: Auch diese sind mit mathematischen Methoden berechenbar, vgl. dazu die Website https://schachlich.de. Wo liegt nun ein möglicher Unterschied, wo sind Äpfel und wo sind Birnen? Bei den Atomen besteht wie schon gezeigt reine Quantität innerhalb der Kategorie Raum innerhalb unserer „Realität“, das Universum ist einfach da und kann angefasst werden, von uns allerdings nur ein sehr kleiner Teil davon, es ist optisch vorhanden. Bei der Anzahl möglicher Schachpartien geht es um die Kategorien Raum und Zeit in einem großteils virtuellem Bereich: Bei der optischen Präsentation des Ergebnisses mit der Schwerpunktbildung Raum ist sehr schnell Schluss, es wären schlichtweg nicht genug Atome vorhanden um nicht nur Bretter für 10 hoch 120 Partien aufzubauen – geschweige denn jede einzelne Partie noch einmal mit 100 bis 200 Halbzügen als einzelne Stellungsbilder zu dokumentieren, gestaltete man die Spielbretter oder Diagramme auch noch so klein. Legt man den Fokus der Darstellung auf die Kategorie Zeit, so wäre damit zwar enorm viel Platz gespart, man käme mit einem einzigen Brett auf einem Bildschirmdisplay eines Computers aus, der aber „bis in alle Ewigkeit“ bräuchte, die Zugfolgen aller möglichen Partien nacheinander darzustellen.

 

Spätestens jetzt beschleicht den einen Leser, die andere Leserin das Gefühl: Was soll das alles?? Gigantische Zahlen, unendliche Möglichkeiten - sehr eindrucksvoll, alles schön und gut, aber einen Faktor hast du bei deiner Betrachtung vergessen: den Faktor Qualität! (Genau. Da ich selbst der Autor auch dieses Einwandes bin, stimme ich natürlich vollumfänglich zu – oder widerspreche, wie man´s nimmt). Ich weiß nicht wie viel, aber fast alles an tatsächlich möglichen Partien wäre einfach nur Schrott. Geprägt von sinnlosen Zügen, endlosen Wiederholungen, mit anderen Worten nichts, was ein passionierter Schachspieler gerne sehen würde. Ich - Richard Yeti - möchte mich sogar zu der Behauptung hinreißen lassen, dass alles was an Schachpartien von Belang ist, in ein paar Millionen Meisterpartien konserviert ist, speicherbar auf einem wenige Zentimeter großen USB-Stick, wie ihn die meisten Schachspieler ohnehin schon zuhause haben. In diesen Partien dürfte alles Interessante stecken, was bisher jemals an sportlichem, wissenschaftlichem und künstlerischem Gehalt des Partie-Schachs zustande gekommen ist – und die Zukunft wird nach und nach immer weitere Juwelen und Fundstücke ans Tageslicht fördern, alle immer aber höchstens im Millionen- oder allenfalls Milliardenbereich an verschiedenen Partien und nicht in aberwitzigen Größenordnungen von 10 hoch 120!

 

Zwei Anmerkungen sind noch zu machen:

1) Zu den Millionen Meisterpartien sind natürlich fachkundige Kommentare mitzuliefern, die die große Zahl an Varianten beleuchten, die nicht aufs Brett gekommen sind, weil die Spitzenspieler sie vorausberechnet und gedanklich aussortiert haben – Zugfolgen, die, wie wir alle wissen, für den schachlichen Normalverbraucher in taktischer und strategischer Hinsicht überaus lehrreich und informativ sein können. Es bedarf also entweder einer kleineren Sammlung kommentierter Meisterpartien auf höchstem Niveau oder aber einer erweiterten Sammlung mit Partien deutlich weniger starker Spieler, in denen sich lehrreiche taktische und strategische Finessen auf dem Brett selbst und nicht nur in möglichen Varianten abbilden. Man dürfte dann aber zur vollständigen Abbildung des weltweit produzierten schachlichen Gehalts kaum oberhalb von 100 Millionen produzierter Partien liegen.

Als letztes käme noch das „Lokalkolorit“ hinzu, also alle eigenen Partien und alle Partien von Spielern aus der Region, von Spielern des persönlichen Umfeldes, des eigenen Vereins, der Stadt und Region, in der man lebt. Diese Partiemenge dürfte jedoch gemessen an den vielen Millionen Meisterpartien überschaubar sein.

2) Gibt es nun zu diesem qualitativem Prozess der Aussonderung von Partien von minderer oder völlig fehlender Relevanz durch den Schachspieler eine Entsprechung bei der Betrachtung der anderen heute hier untersuchten Größe, also den Atomen des Weltalls? Diese Frage kann man durchaus bejahen. Sie hängt allerdings auch davon ab, in welchem Maße sich unser Erkenntnis-Instrumentarium in Zukunft noch entwickeln wird. Nach dem Staunen über die schiere riesige Zahl (10 hoch 86) an Atomen, also über die Quantität, verfeinert der Mensch als Astronom sein Wahrnehmungs- und Beobachtungsraster: riesige interstellare und intergalaktische Leerräume sind für ihn uninteressant (das Phänomen der dunklen Materie soll hier einmal außer Acht gelassen werden), er richtet seine Aufmerksamkeit – ähnlich wie der partiensichtende Schachspieler – auf Regionen mit hohem Strukturreichtum und großer Diversität (etwa wie ein Marder, der sich für Auto-Motorräume alten Schlages interessierte) und orientiert sich vornehmlich an zwei Gesichtspunkten: welche Strukturen könnten Aufschluss geben über einen möglichen Ursprung des Universums, etwa schwarze Löcher, und welche Sterne und Planeten in welchen Galaxien könnten lebensfreundliche Existenzbedingungen bieten? Auch hier wieder liegt – ähnlich wie beim Schach - der Fokus des Interesses auf Strukturen und Abläufen von vermutlich hoher und höchster Komplexität.

Fassen wir noch mal zusammen: Milliarden Jahre brauchte die Natur, um erst das Leben und dann den Menschen hervorzubringen als ein Wesen, das seinerseits irgendwann durch seine Vorstellungskraft mit dem Schachspiel ein teilweises, ein modellhaftes Abbild der Wirkkräfte des Lebens und der menschlichen Gesellschaft hervorzubringen in der Lage war. Nach kosmischen zeitlichen Dimensionen gerechnet sehr bald danach lernte er, die Ausdehnung und Anzahl einer kleinen Grundeinheit des ihn umgebenden Kosmos zu erahnen und zu berechnen und in einem weiteren Schritt die Anzahl der Möglichkeiten von Schachpartien mit der Anzahl einer räumlichen Grundeinheit des Universums zu vergleichen und Erstaunen zu empfinden. In einem weiteren Schritt – dem des qualitativen Vergleichs - kann der Mensch diese Erkenntnis einordnen und relativieren und in beiden Bereichen – im Schach und in der Astronomie - durch Aussortieren von weniger und gar nicht Relevantem zu neuen Verdichtungen seiner Erkenntnisse gelangen.

 

P.S.:

Was denn, noch was vergessen? Und ob, die Computerpartien natürlich! Diejenigen von bleibendem Wert gegen uns Menschen dürften wohl überschaubar sein und bleiben, der Zug ist wohl abgefahren, so meine Prognose. Anders könnte es bei den Partien der Engines untereinander aussehen. Bereits jetzt gibt es etliche schachliche Highlights zu bestaunen und zur Zeit scheint es kaum vorhersehbar, wohin die Reise in puncto Qualität noch gehen wird – eine Qualität, zu deren Einschätzung und Beurteilung wir Menschen wiederum auf die Berechnungen der Engines angewiesen sein werden!

 

Übrigens: Kohlenstoff und Silizium sind bekanntlich die Grundstoffe, auf denen zum einen menschliches Leben und zum anderen zur Zeit das „Leben“ der künstlichen Intelligenz beruht, beides Atome der Ordnungsgruppe 14 im Periodensystem der chemischen Elemente und deutlich seltener als der Wasserstoff, die Grundstruktur aller Atome im Weltall. Aber selbst alle Kohlenstoff- und Silizium-Atome nur hier auf der Erde zu zählen – selbst das wäre unserem oben genannten Salvatore doch deutlich schwer geworden.

 

Zum Schluß ein Tribut an die politische Korrektheit:

  1. Salvatore könnte selbstverständlich auch Sergej, Tasuku, Li oder Peter, Paul und Mary heißen.
  2. Geringe kognitive Intelligenz ist kein Grund, auf andere Menschen herabzusehen, vgl. nur „Forrest Gump“ und viele andere anschauliche Beispiele mehr, auch von Nicht-“Leistungsträgern“.
  3. Und vielleicht werden Historiker in kommenden Jahrtausenden - oder zu Besuch kommende Außerirdische - einmal feststellen, dass das Treiben der weltumspannenden „ehrenwerten Familie“, sei sie nun italienischen, russischen, amerikanischen, japanischen oder chinesischen Ursprungs, einen nützlichen Beitrag zur menschlichen Evolution geliefert hat. Wer weiß. Nee, ohne Scheiß jetzt.

 

 

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