Liebe Schachfreunde,

nicht wenig überrascht war ich gewesen am 16. Dezember vergangenen Jahres, als ich am frühen Nachmittag folgende Mail bekam:

 

„Hallo Udo,
das Jahr neigt sich dem Ende zu – und bietet Anlaß, „kurz vor Toresschluß“ noch ein wenig über Schach und letzte Dinge zu sprechen. Bin heute kurzfristig bei euch in der Stadt – wie wär´s mit einem Plauderstündchen nachmittags um Fünf im „Kraftstoff“ in der Augustastraße 2, im Schatten eures Dortmunder U ? (Kenne den Wirt, läßt uns zwei Stunden früher als die Anderen rein, damit wir mehr Ruhe haben)
Gruß
Richard Yéti“

 

Bisher kannten wir R.Y. nur als gesichtslosen Übersender skurriler Texte für die Randspringer-Rubrik unserer Vereins-Homepage, nun wollte er plötzlich persönlich erscheinen – ich war gespannt! In aller Eile kritzelte ich mir ein paar Fragen auf einen Block, schnappte mir mein Diktiergerät und machte mich auf den Weg zum „Kraftstoff“. Und drinnen saß er dann, in einer Ecke, gebeugt über eine Tasse noch dampfenden grünen Tees: weit über zwei Meter groß allem Anschein nach, mit Vollbart und langen Haaren in rötlichem Braun, die Füße riesig. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Fassung wiedererlangen, R.Y. begrüßen, mich dazu setzen und mein Aufnahmegerät einschalten konnte. Gestern erst bin ich dazu gekommen, das nachstehende Interview abzutippen.

 (Lesezeit etwa 30 min)

 

„Sparsam auf grossem Fuss“

Richard Yéti im Gespräch mit Udo Rauschenbusch

 

Obwohl wir uns gar nicht persönlich kennen, Richard, haben wir uns vor dem Interview darauf geeinigt, uns mit dem Vornamen anzusprechen ...

Genau. Herr Yéti klingt doch wohl einigermaßen lächerlich und ein Nachname wie der ihrige, Udo, ist auch etwas kompliziert ...

So ist es. In Ihrem ersten Text auf unserer Homepage haben Sie sich als „Ostasien-Korrespondent“ vorgestellt, wenn ich mich recht erinnere ...

Oh, das war bloß so eine Anwandlung, weil ich mal kurzzeitig in Shanghai ... in Wirklichkeit bin ich nepalesischer Staatsbürger, mit Deutsch als zweiter Muttersprache aufgewachsen.

Sie leben also in Nepal. Wo genau, wenn ich fragen darf?

Den genauen Ort möchte ich nicht preisgeben, sagen wir irgendwo in den Bergen im Norden Nepals an der Grenze zu Tibet – oder zu China, wenn Sie so wollen.

Verstehe, immer noch ein heikles politisches Thema. Aber kommen wir vielleicht einmal zu Ihrem Lebenslauf, sind Sie ...

Meinen Lebenslauf wollen Sie, also gut: Ich wurde am 13. Mai 1974 als erster Sohn eines deutschen Globbetrotters aus Pirmasens und einer nepalesischen Korbflechterin in der Freak Street am Durbar Square in Kathmandu geboren. Meine Eltern ...

Nein, bitte ... Lebenslauf, das war nicht so förmlich gemeint, nicht quasi im Amtsdeutsch ...

Ach, Sie hatten mehr Anekdotisches im Sinn?

Nun ja, sicherlich.

Also gut. Ich denke, mit dem ersten Satz meines „Lebenslaufes“ wird für den Kenner der jüngeren Zeitgeschichte schon einiges klar geworden sein: Kathmandu, das Shangrila, das Mekka für die europäischen Hippies und Freaks in den Sechzigern und Siebzigern, in der „Freak Street“ gab es gutes und billiges Hasch in Hülle und Fülle, dann die jungen einheimischen Frauen, muss ich noch mehr sagen ...

Nein, ich glaube nicht ... „Katmandu, I´ll soon be seeing you/ And your strange bewildring time will hold me down“ sang damals Cat Stevens ...

Sehr richtig. - Es war schon eine wilde Zeit, pflegte mein Dad später immer zu sagen, er war damals übrigens schon Mitte 50! Mir dagegen hat es weniger gefallen: Wir wohnten damals da zu dritt in einem Hinterhof in dieser Straße, die heute schon fast zu einem Touristen-Nepp verkommen ist, erstaunlich lange haben wir´s da ausgehalten, acht Jahre, bis 1982. Die letzten vier davon sind die ersten Jahre, die ich in bewußter Erinnerung habe, überall Lärm und Unruhe, es ging zu wie in einem Taubenschlag, daher vielleicht mein heutiges häufiges Bedürfnis nach einem Leben fernab der Zivilisation in Ruhe und Abgeschiedenheit und dennoch, wenn ich das hier noch einflechten darf ...

Aber bitte.

Verglichen mit den heutigen Zuständen in Kathmandu war das damals noch eine Oase der Ruhe gewesen: Überall Autoverkehr jetzt in den engen Gassen und Strassen, der Smog wegen der Lage in einem Talkessel, der Flughafen mit seinen donnernden Maschinen, dessen Erbauung übrigens unser famoser Mount-Everest-Erstbesteiger Sir Edmund Hillary mehr oder weniger zu verantworten hat ... na, das bringt mich jetzt wirklich zu einer schönen Anekdote, die ich Ihren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten darf, wenn ich darf ...

Nur zu.

Also mein alter Herr erzählte das immer so: Mitte der Siebziger, an einem sonnigen Sommernachmittag, schlenderte er in der Altstadt Kathmandus durch die engen Gassen, ein wenig zugedröhnt wie immer von einem guten Joint, als ihn plötzlich ein Mann am Ärmel packte und blitzschnell in eine dunkle nicht einsehbare Ecke zog. Der Mann war etwa Mitte 50, genau wie mein Dad, und sah ihm ähnlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Dutzende von Blumenkränzen hingen um seinen Hals, er machte einen gehetzten Eindruck. „Sie müssen mir helfen, junger Mann, ich flehe Sie an, Sie sind meine letzte Rettung. Sagen Sie mir jetzt nur eines: Vertragen Sie den einheimischen Buttertee?“ – „Ja, aber warum fragen Sie?“ entgegnete mein Vater.- „Oh wunderbar, Sie schickt mir der Himmel!!! Kommen Sie heute abend um Acht zu mir ins Hotel Oriental, Zimmer 211.“ Und der Fremde verschwand wieder in einem Pulk Einheimischer, die ihn jubend um die nächste Ecke bugsierten. Mein Dad strich sich sinnierend seinen Bart, das heißt er wollte es: Just am Abend zuvor hatte er ihn erstmals seit Jahren abrasiert, weil er ihn sich beim Gras-Rauchen angesengt hatte ... und ohne Bart, genau, deshalb die Ähnlichkeit, das mußte es sein: Der Fremde war niemand anderes als der berühmte Sir Edmund Hillary, Mount-Everest-Erstbesteiger im Jahre 1953 und später, ab 1984, neusseländischer Botschafter für Indien und Nepal. Er war seit vielen Jahren bei seinen zahlreichen Besuchen im Lande höflichkeitshalber immer und immer wieder zum Konsum von hunderten und aberhunderten Tassen schrecklich salzigen Buttertees verurteilt gewesen, die seinem neuseeländischen Magen so gar nicht bekamen. Zwanzig Jahre hatte er tapfer durchgehalten, nun – Mitte der Siebziger - rebellierte sein Körper nachhaltig. Eine Verweigerung der Teetrinkerei aber wäre in den Augen der Nepalesen ein unentschuldbarer Affront gewesen und so kam es an diesem Abend im Hotel Oriental zu einer Art historischem Deal zwischen Hillary und meinem Dad, dem Mann mit dem eisernen Magen, der hinfort – bis zu Hillarys Tod 2008 – diesen bei allen öffentlichen Terminen vertrat und behaglich lächelnd hektoliterweise Buttertee in sich hineinschlürfte, während er voller Freude an die stattliche Geldsumme dachte, an die monatliche Geldrente, die ihm Hillary für seine unschätzbaren Dienste existenzsichernd zukommen liess.

Fürwahr eine schöne Geschichte! - Aus zeitlichen Gründen müssen wir die weitere Entwicklung jetzt ein wenig raffen und ich möchte mit Folgendem wieder zu Ihrer Vita überleiten: Diese schauspielerische Begabung, die ihrem Herrn Vater innewohnte, denn sonst hätte er ja nicht in all den Jahren unbemerkt und anscheinend glaubwürdig Sir Edmund vertreten können, diese schauspielerische Begabung hat sich offensichtlich auch bis in Ihre Gene einen Weg gebahnt, so daß Sie selbst als Yeti, der Schneemensch, in den Bergen des Himalaya ...

Ach kommen Sie, da gibt´s schon erhebliche Qualitätsunterschiede: Ich zieh´ mir mein Fellkostüm über, warte auf Touristen und Bergsteiger, springe hinter einem Felsvorsprung hervor und mache ein paar Faxen, gerade lang genug, daß diese Heinis ein paar verwackelte Handyfotos von weitem machen können und das nepalesische Touristikministerium mit mir zufrieden ist und mir regelmäßig ein paar Scheine zusteckt ... Mein Dad dagegen, als er mit Hillary handelseinig geworden war, der hat drei Monate neuseeländisches Englisch mit Auckland-Akzent gepaukt, hat in New York Schauspielunterricht genommen bei Lee Strasberg und dazu noch ...

Ich verstehe schon. – Kommen wir aber jetzt vom Leben und Vorleben des Autors zu seinem Werk: Unsere Leserinnen und Leser werden sich fragen ... nun wie soll ich mich ausdrücken, ohne wiederum ein wenig Unmut zu erregen, vielleicht so: Was bringt einen Zeitgenossen im Himalaya dazu, auf der Homepage eines Dortmunder Schachvereins Beiträge zu veröffentlichen?

Das ist schnell erklärt: Mein Vater war ein ganz passabler Schachspieler und hat es mir beigebracht ... ja und am bereits erwähnten Durbar Square in Kathmandu, wo leider beim Erdbeben 2015 vieles zerstört wurde, Spenden zum Wiederaufbau dort und andernorts sind übrigens immer willkommen, am Durbar Square also gab es eine Ecke, die mit dem Washington Square in New York vergleichbar ist ...

Sie meinen, die mit den Profi-Blitzspielern, die den Touristen das Geld aus der Tasche ...

Genau, kein feiner Zug von meinem Alten übrigens, moralisch mein ich jetzt, seine Züge auf dem Brett waren durchaus manchmal vom Feinsten ... aber er hat sich eben was dazu verdient auf diese Weise, vor der Doppelgänger-Geschichte, er hatte ja drei Mäuler zu stopfen ...

Verstehe. Aber wie ...

Ich sagte schon, ein Zweig meiner Familie väterlicherseits stammte aus Pirmasens, ein anderer aber eben aus Dortmund ... was soll ich Sie jetzt mit Querverbindungen zwischen Großtanten und Schwagern von Schwägerinnnen langweilen, alle drei, vier Jahre zu Weihnachten jedenfalls jette ich mal hier rüber nach Pirmasens und danach zu Euch Ruhris ...

Und verschlechtern Ihre sonst wohl recht makellose persönliche CO2-Bilanz!

Aber sowas von, leider! Jedenfalls stiess ich beim sporadischem Surfen auf den Homepages der Dortmunder Schachvereine auf die neu gegründete Seite des FSV, hab dann ja bekanntlich nachgefragt, ob ich auch mal in der Rubrik Randspringer ... Sie und Michael hatten nichts dagegen und so nahmen die Dinge Ihren Lauf ... wenn nicht, hätte ich meine Machwerke versucht woanders unterzubringen.

Äh, ich glaube, ich sollte jetzt was Höfliches sagen ...

Aber nein. Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, dieses zeitlich kurz geöffnete Kippfenster der Verlegenheit zu umschiffen, indem ich – bevor wir zu meinen Textinhalten kommen – ...

Sehr gerne.

... unserer Leserschar ...

Ob es eine solche gibt? Eher wohl eine amorphe Masse von Button-Anklickern ...

So sehe ich es leider auch. Bin kein Kulturpessimist, aber man muß realistisch sein ... Jedenfalls, dem einen oder anderen Button-Anklicker möchte ich folgendes kuriose Bild meines Alltags vor Augen stellen: Irgendwo auf dem steilen Abhang eines Dreitausenders hocke ich sturmumtost hinter einem Felsvorsprung, allein mein Yéti-Ganzkörperfellkostüm hält mich mollig warm, ich warte ja bekanntlich auf schreckhafte Touristen und ahnungslose Bergwanderer. Als zweites finanzielles Standbein, um auch als sparsamer Mensch über die Runden zu kommen ...

Sparsam? Sie leben doch auf großem Fuss, wenn ich mir hier Ihre Schuhgröße vor Augen halte!

Bravo, ein schönes Wortspiel, Respekt! Übrigens Größe 58, hilft beim Yéti-Dasein ungemein, wegen der Fußabdrücke, verstehen Sie ...

Natürlich, und die Körpergröße von ...

Zweimeterundzwölf.

Na da braucht man keine sonderlich hohen Extra-Absätze mehr, um als Yeti durchzugehen.

So ist das. - Um auf mein zweites finanzielles Standbein zurückzukommen: während ich da also hinter meinem Felsvorsprung auf Schreckhafte lauere, mit kleinen Eiszapfen in meinem Bart versteht sich, habe ich meinen Laptop auf den Knien, ich habe gute Funkverbindung zu einer WLAN-Station in der Nähe. Auf dem Bildschirm eine Liste aller Yak-Rinderherden in der Umgebung, die ich zu betreuen habe. Deren Kälber wiederum sind alle RFID-gechipt und ihre aktuellen „Standorte“ auf meinem Bildschirm sichtbar. Wenn nun eines dieser Kälber versehentlich in eine Glescherspalte rutscht, werde ich akustisch informiert und kann sofort in kürzester Zeit zur Rettung zur Stelle sein. Das Gute ist übrigens, daß nur die ganz jungen Kälber mal in eine Glescherspalte fallen und die ganz jungen Kälber wiederum mit durchschnittlich nur 12 kg Körpergewicht noch recht leicht zu bergen sind – ein ausgewachsenes Yak-Rind dagegen stattliche 500 kg auf die Waage bringt ...

So daß Ihnen diese Bergungsarbeit relativ leicht von der Hand geht ...

Genau. Ist übrigens ein Beschäftigungskreislauf das Ganze: Ich erschrecke die Bergsteiger und Touristen, deren Aufgeregtheit erschreckt die Yakherden, von denen dann hin und wieder ein Kalb ... worauf ich dann wieder durch einen Beeper aus meinem meditativen Dämmerzustand aufgeschreckt werde ... Ich habe übrigens nicht immer meinen Blick auf die Landkarte gerichtet. Meistens ist nur das Akustik-Signal eingeschaltet und ich kann am Bildschirm in aller Ruhe Texte formulieren, ...

Denen wir uns jetzt zuwenden wollen. In ihrem bisherigen...

Wenn ich eins noch anmerken darf: In den Bergen Tibets bin ich, sind wir nur im „Sommer“, wär mir sonst doch zu kalt, das Winterhalbjahr verbringen meine Frau und ich meistens im indischen Bundesstaat Goa, wo wir von meiner Frau handgestrickte Pullover aus Yak-Wolle verkaufen ...

In Goa, ist denn da Woll-Pullover-Bedarf bei annähernd 30 Grad?

Nein, ist wieder nur was für die Touristen halt, die packen sich ein, zwei Original-Tibet-Pullover in ihre Traveller-Rucksäcke und können dann zuhause glaubhaft erzählen, sie wären auch in Tibet gewesen, obwohl sie in Wirklichkeit nur in Goa am Strand gelegen haben.

Aha. Ja, so funktionieren die Marktmechanismen wohl. – Aber kommen wir nun zu einem Text auf unserer Vereins-Homepage, in Ihrem bisherigen Hauptwerk „Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst“ spannen Sie ja einen weiten Bogen ...

Vielleicht einen zu weiten Bogen, will ich durchaus selbstkritisch anmerken ...

Naja, andererseits: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, sagte schon Goethe ...

... „und jeder geht zufrieden aus dem Haus“, das steht im „Faust“, nicht wahr ... Sie sind zu diplomatisch, danke sehr. Wie auch immer ... Aber wegen dieses Vielerleis möchte ich meine Kernbotschaft hier noch einmal ganz einfach zusammenfassen ... Kann man das später im Text vielleicht fettgedruckt bringen?

Sicher.

Also: Neben seinen vielen Bezügen zu Sport und Wettkampf, Spiel und Zeitvertreib, Kunst und sogar Wissenschaft kann das Schachspiel, eine Schachpartie, auch als Streben nach Rückgewinnung einer verloren gegangenen Einheit betrachtet werden, einer Einheit, die dem Menschen verlorenen gegangen ist nachdem ...

Nach der Vertreibung aus dem Paradies etwa?

Genau. So beschreibt es der Mythos, der natürlich nicht wörtlich zu nehmen ist. Die Trennung oder Abspaltung des Menschen besteht meiner Meinung nach in dreierlei Hinsicht: spirituell von seinem Höheren Selbst, tiefenpsychologisch gesehen von seinem Unbewußten und - eine Neuerung des modernen Menschen – in ökologischer Sicht natürlich von seiner Umwelt, denken Sie an die Klimazerstörung, die beschönigend „Klimawandel“ genannt wird.

Eine dreifache Abspaltung des Menschen sagen Sie, hmh, eine steile These ... sortieren wir einmal nach der jeweiligen gesellschaftlichen Akzeptanz: Einer Abspaltung von seiner Umwelt, da werden sicher die meisten Menschen zustimmend nicken. Die Annahme einer tiefenpsychologischen Abspaltung dagegen erfährt schon geringere Akzeptanz.. Freud, Jung und andere werden zwar in vieler Munde geführt, aber es gibt auch genug Stimmen, die die Gedankengebäude von Freud und Co. nur für ein Hirngespinst halten ... und eine spirituelle Abspaltung, eine Abspaltung von einem Höheren Selbst ... nun, da werden Ihnen alle Atheisten vehement widersprechen und sie werden Ihre guten Gründe dafür haben.

Manche guten Gründe und manche weniger guten, behaupte ich mal. In Teil 2 des Textes „Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst“ habe ich ja die beiden Hauptargumente der Mystik-Kritiker aufgegriffen – und zu diesen Kritikern zähle ich nicht nur die „StrengWissenschaftsgläubigen“ sondern auch die Vertreter der etablierten Religionen, die es sich in ihren Ritualen und Institutionen bequem eingerichtet haben und mystischen Bestrebungen, also Versuchen des einzelnen Menschen, durch eigene Bemühungen – sei es durch Gebet oder Meditation oder Kontemplation - ohne Mittelspersonen mit dem Numinosen, dem Unbenennbaren, dem Allumfassenden und Immerwährenden, dem Zeitlosen und niemals Endenden in Kontakt zu treten, zutiefst skeptisch gegenüber stehen, da sie durchaus ihre eigenen Pfründe, Privilegien und Deutungshoheiten in Gefahr sehen. – Wissenschaft und Religion wiederum haben sich in der Vergangenheit im Umgang miteinander – oder besser gegeneinander – wenig geschenkt, ein Umstand, der immer noch nachwirkt und die wechselseitige Beliebtheit nicht gerade gefördert zu haben scheint. Ken Wilber hat dieses Verhältnis in seinem Buch „Naturwissenschaft und Religion“ übrigens ausführlich untersucht und versucht zu bewerten.

Ken Wilber ist ein Autor, den Sie mehrfach zitieren ...

Eine Zeitschrift hat ihn auf ihrem Titelblatt einmal als „Super-Genie“ bezeichnet. Das ist gar nicht so anmaßend und übertrieben peinlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Genie ist ja ein Begriff, den wir in unserem Alltag durchaus ein wenig inflationär gebrauchen. Neben den Titanen der Geisteswelt wie Goethe, Rembrandt oder Mozart, die wir als Genies bezeichnen, kennen wir auch den Begriff des „Koch-Genies“ oder des „Organisationsgenies“ ... ist also durchaus nicht soo hoch zu hängen. Wie auch immer: Der Begriff „Super-Genie“ soll vielleicht das spezielle Talent Wilbers verdeutlichen, im Wege der geistigen Überschau oder Gesamtschau, der Super-Vision, viele verschiedene geistige Konzepte und Erklärungsmodelle unter einen Hut zu bringen und miteinander stimmig zu machen. Das Bestreben, dies zu können und dies zu tun, soll wiederum mit den wachsenden intuitiven Fähigkeiten, die zum Beispiel durch meditative Praxis gefördert werden, in Zusammenhang stehen. In einer solchen Gesamtschau hat dann Marx seinen Platz neben Freud und Jung, neben Habermas und Piaget, Jean Gebser, Aurobindo und Sri Ramana Maharshi – ein Umstand, der den „monokausalen“ Welterklärern mit ihren jeweils Einzel-Säulenheiligen eher sauer aufstößt. Marxisten zum Beispiel nehmen dann gerne Zuflucht zu Feuerbach, der sämtliche Gottesvorstellungen als bloße Erfindungen der Menschen verwirft, die mit dem kalten, keine Orientierung von Außen gebenden Universum ohne einen Gott nicht zurecht kommen und so weiter. Die evangelikalen Christen stören sich an der Evolutionstheorie, wettern gegen die Abtreibung, aber haben nichts gegen eine Art und Weise der Bevölkerungsdezimierung, die dadurch entsteht, daß Vierjährige ihr dreijähriges Geschwister mit der Schnellfeuerpistole ins Jenseits befördern, die ihr Daddy im Schlafzimmer unter seiner Matraze zum Schutz vor potentiellen „Neger“-Einbrechern deponiert hatte. – Ich mußte das jetzt mal so formulieren, um meinerseits den Ansprüchen der eigenen „Community“ gerecht zu werden zu versuchen, denn in esoterisch-spirituell orientierten Kreisen gilt es als Zeichen verstärkten Zugangs zum eigenen Höheren Selbst, wenn man sich tolerant gibt und durchaus auch selbst-ironisch, nicht dogmatisch-fanatisch, sondern heiter, verständnis- und humorvoll. Ich hoffe, diesen Anschein zu erwecken, ist mir ansatzweise gelungen.

Äh, jaja, durchaus. – Aber vielleicht geraten wir doch in etwas zu theoretische Fahrwasser und sollten unserer Leserschar ...

Den Button-Anklickern ...

... den Button-Anklickern jetzt zur Weihnachtszeit etwas mehr Konkret-Anschauliches an die Hand geben.

Will ich gerne tun. Sehen Sie, als ich mich auf dem Weg zu unserem Treffpunkt hier am Rande des City-Ringes auf dem Westenhellweg der Lawine von vorweihnachtlichen Einkaufswilligen entgegenwarf, kam ich auch an der Kaufhof-Filiale vorbei – Kaufhof, dessen Mutterkonzern jetzt auch von Karstadt-Eigner René Benko übernommen werden soll, wie ich neulich las. René Benko, Sie erinnern sich ...

Eine Figur aus „Invasion bei Karstadt“, eine Ihrer anderen Geschichten auf unserer Homepage ...

Es waren erst zwei Geschichten insgesamt übrigens, dieser Bärenklau-Text ist nicht von mir, muß irgendein Trittbrettfahrer gewesen sein. - Da saß also vor dieser Kaufhof-Filiale ein Bettler mit nackten Unterschenkeln, an denen verkrüppelte Füße hingen, streckte bittend seine Hände empor, der Oberkörper pendelte klagend vor und zurück. Er saß nur auf einer dünnen Matte, die Füße und Unterschenkel nackt, die Außentemperatur nur knapp über Null! Trotzdem gingen alle Passanten vorbei, ich selber eingeschlossen. Und warum: Weil wir die wirklichen Zusammenhänge zu kennen glauben – bulgarische oder rumänische Bettlerbanden, der Chef sitzt in seiner Villa in Plovdiv oder Bukarest mit ´nem dicken Mercedes oder BMW vor der Tür und setzt sein Fußvolk ...

„Fuß“volk – wahrlich ein Zynismus in diesem Zusammenhang ... solch niedrige Gesinnung gibt es aber weltweit, nicht nur in Südosteuropa ...

Natürlich, völlig richtig, ist ja nur zur Veranschaulichung ... Und läßt diese armen Geschöpfe in Deutschlands Fußgängerzonen anschaffen unter solch unwürdigen Bedingungen, damit die vermeintliche Bedürftigkeit besser rüberkommt beim flanierenden Kunden ... und wir wissen nicht, ob es nicht auch solche Dialoge in Plovdiv oder Bukarest gab und gibt: „Heh, du da drüben mit dem amputierten Bein! In vier Wochen fährst du nach Frankfurt und sitzt in der Zeil.“ – „Aber ich hab´ doch gar kein amputiertes Bein!“ - „Das werden wir gleich haben. Wie gesagt: In vier Wochen, wenn die Nahtstelle halbwegs verheilt ist.“

In der Tat: Wir wissen es nicht, aber wundern würde es einen auch nicht mehr, wenn es wirklich so wäre.- Vielleicht kriegen diese armen Leute, um Kälte und Schmerzen auszuhalten, immerhin Schmerz- oder Betäubungsmittel, deren Anschaffungskosten sie allerdings als ihre eigene Ich-AG eigenständig erwirtschaften müssten mit ihrer Bettelei...

So ist es und nun frage ich Sie: Ist das nicht pervers und verabscheuungswürdig?

Ohne Frage. Haben Sie denn einen Lösungsvorschlag?

Vielleicht. Aber es gibt keine echte nachhaltige Lösung ohne Erkenntnis der Problemursache: Ein schrankenloser entfesselter Kapitalismus. Befeuert durch das IT-technisch nunmehr Machbare und durch die menschliche Gier. Die Gier wiederum resultiert meiner Meinung nach zum Großteil aus der Angst des Menschen vor seiner Vergänglichkeit. Je weniger neurotisch und Ich-stabiler jemand ist, desto besser kommt er zwar damit klar, desto weniger neigt er zu solch einem zynisch-destruktivem Verhalten wie oben geschildert; meinens Erachtens bleibt aber selbst bei diesen psychisch weitgehend Gesunden ein spirituelles Defizit, „Der Wurm in unserem Herzen“, wie es der Autor Sheldon Solomon einmal formulierte, der angesichts der eigenen Endlichkeit am eigenen Selbstverständnis nagt. Diesbezüglich Unzufriedene könnten durch eigene Bemühungen Kontaktaufnahmeversuche mit ihrem mutmaßlich existierenden Höheren Selbst unternehmen, die meisten Volkshochschulen bieten Meditations-Kurse für Einsteiger.

Wie sieht es denn diesbezüglich bei Richard Yéti selber aus?

Ja, ja, das alte Lied, Wein trinken und Wasser predigen oder so ähnlich. Immerhin habe ich in meinen Zwanziger-Lebens-Jahren sieben Jahre lang zweimal täglich eine Mantra-Meditation praktiziert, die auch Clint Eastwood und David Lynch, Ollie Dittrich und Marius Müller-Westernhagen bis heute noch ausüben – die Genannten nach eigenem Bekunden allesamt regelmäßiger und über die Jahre und Jahrzehnte beständiger als ich, wie ich leider zugeben muß – aber ich bleibe am Ball, zumindest mehrmals die Woche. Dazu kommt seit einger Zeit noch eine spezielle Meditation, die die Empathie, das Mitempfinden fördert. Wie dann das Elend in der Welt auf einen wirkt, hat der bereits genannte Ken Wilber mal auf die Kurzformel gebracht: „(It) Hurts me more, (It) bothers me less!“

Wie soll man das übersetzen, wie ist das gemeint?

Etwa so: „Das Elend in der Welt bekümmert mich mehr (als früher), aber es kümmert mich auch weniger (weil ich es als Teil der Maya, der Täuschung ansehe, die vom Standpunkt des eigenen Höheren Selbst ...

Des mutmaßlichen eigenen Höheren Selbst!

Genau, wir wollen präzise bleiben und niemandem ungefragt mutmaßliche Wahrheiten aufdrängen ... also es kümmert mich auch weniger, weil ich es vom Standpunkt des mutmaßlichen eigenen höheren Selbst als zeitliches Durchgangsstadium, als eine Art Traum und insofern nur als scheinbar existent betrachte. Im „Auf der Suche“- Text (Teil 2) habe ich ja das Traum-Beispiel von Gustav Meyrink angeführt. Um Ihren Einwand gleich vorwegzunehmen: Mit einem Folteropfer, einem Ex.-KZ-Insassen oder Überlebenden von Hiroshima sollte man darüber besser keine Diskussion anfangen – es sei denn mit sehr weit fortgeschrittenen Meditierenden, die – nach eigenem Bekunden wiederum – in der Lage sind oder waren, solche Schreckens-Lebensabschnitte im mentalen Zustand des bloßen „Zeugen“ zu überstehen ...

Im Zustand des „Zeugen“? Also durch das, was ein Psychologe Dissoziation, also Abspaltung des eigenen Bewußtseins vom Erlebten nennt?

Das ist eben die Frage: Ist es eine aus der Not geborene Rückwärtsentwicklung des Ichs oder eine Vorwärts- oder Aufwärtsentwicklung zum eigenen Höheren Selbst, das – mutmaßlich! - in ewiger Freude, Heiterkeit und Gelassenheit existiert und die Sorgen und Nöte des beschränkten kleinen Ichs aus einer anderen Perspektive erlebt.

Hmh, das ist nicht eben leicht Verdauliches, was Sie da ... Andererseits gibt es tatsächlich auch Menschen wie Viktor Frankl, den Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, dessen Buch ich vor vielen Jahren mal gelesen habe: “...trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ hieß es, glaub ich ...

Genau. - Ich sage nur: Probieren Sie´s aus mit der Meditation, wenn Ihnen danach ist – und wenn Ihnen Ihr eigenes Leben und der Zustand der Welt rundum gefällt, dann lassen Sie´s bleiben ... Übrigens – um ein letztes Mal Ken Wilber zu erwähnen, der selber behauptet, alle Welterklärungskonzepte werden irgendwann von besseren ersetzt werden, so werde es auch mit seinem eigenen nicht anders sein – Wilber verfolgt einen integralen, einen integrierenden Ansatz für veränderungswillige Menschen: es beginnt bei Sport und Ernährung, geht weiter über Chi-Gong, Psychotherapie, Meditation oder Gebet zum veränderten Verhalten in Familie und Beruf bis zum tatkräftigen Einmischen in der Politik. Je mehr Bereiche miterfasst werden, desto wirksamer und schneller werden sich positive Veränderungen im einzelnen und kollektiven Bewußtsein ergeben. Die Psychopathen dieser Welt werden natürlich nicht zu Meditieren anfangen, aber ihr negativer Einfluß soll durch die inneren Veränderungen und äusseren Einmischungen der Anderen vermindert werden.

Aha. – Mal was anderes: Schrieben Sie im „Auf der Suche“- Text nicht auch über Reinkarnation und über die Entwicklung des Individuums in verschiedenen Rollen und Tätigkeiten?

Kann schon sein. Wie manche mutmaßliche Kenner der Abläufe sagen: In den ersten Inkarnationen findet das Individuum ausschließlich seine Zufriedenheit in gutem Essen, Sex und Trinken, in späteren strebt es mehr nach Geld und Macht, um sich in weiteren dann mehr den Fragen der Wissenschaft, Kunst, Philosophie und nachhaltigen Weltverbesserung zuzuwenden. Wege, die alle zu gehen haben, Programme, die von allen zu durchlaufen sind. Immer sind Vertreter unterschiedlicher Bewußtseinsstufen gleichzeitg auf diesem Planeten, das macht das Zusammenleben nicht eben einfach. - Sehen Sie, unsere irdische Welt mit ihrer Schwerkraft, ihrer Trägheit ist eben ein ideales Experimentierfeld, anders als die mutmaßlich höheren Welten. Nehmen Sie die - mutmaßliche! – Astralwelt zum Beispiel, die Welt unserer nächtlichen Träume, wo sich Positives wie Negatives sofort verwirklicht wie bei König Midas oder verrückte Dinge passieren wie bei Alice im Wunderland. Unter solchen Laborbedingungen können keine nachhaltigen Erfahrungen gemacht, keine nachhaltigen, Jahrtausende überdauernden Strukturen aufgebaut werden, in denen nach und nach immer wieder neue und komplexere Modelle des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausprobiert werden können. - Der einzelne Mensch kehrt vor allem auch – neben seiner eigenen Weiterentwicklung – immer wieder, alle paar Jahrhunderte im Durchschnitt, auf diesen Planeten zurück, um an der kollektiven Weiterentwicklung teilzunehmen. Und am Ende des langen Weges haben wir alle die mehrfache Abspaltung überwunden und kehren zurück in ein weit höheres kollektives Bewußtsein, als wir uns heute vorstellen können: wie vor der großen, Jahrmillionen dauernden Reise durch Evolution und Involution wieder in ewiger Freude und Zufriedenheit existierend, damals als „unbewußter“ göttlicher Funke – am Ende der Reise jedoch jeder noch zusätzlich mit seiner individuellen Erfahrungsgeschichte.

Und in diesem neuen kollektiven Bewußtsein sitzen wir dann alle zusammen ums Lagerfeuer - im Jenseits oder wo auch immer - und erzählen uns unsere individuellen Dönekens, bevor der Weltgeist sich wieder zusammenzieht um alles und alle in sich aufzunehmen und wieder von vorne anzufangen?

Vielleicht meinen Sie das ironisch, aber ja, so könnte es sein, ein schönes Schlußbild so eine Vorstellung, wie bei Asterix ... und der Barde Troubadix hängt gefesselt und geknebelt im Baum, warum nicht. Aber um im Bild zu bleiben: „unsere individuellen Dönekens“ werden danach natürlich gut aufbewahrt bei wem auch immer im Regal stehen, um sie mit dem nächsten Weltzyklus vergleichen zu können. Oder anders gesagt: Die Welt verliert nichts!

Aber bis dahin spielen wir alle noch ein paar Schachpartien und denken dabei gelegentlich – vielleicht nach ein paar Bieren – an die Überwindung der mutmaßlichen dreifachen menschlichen Abspaltung, die wir mutmaßlich im Spiel symbolisch zu überwinden trachten.

Ja, ich denke, so machen wir´s.

Richard, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Gerne.

 

Wir bezahlten und traten hinaus in den leichten Nieselregen auf der Rheinischen Straße. Direkt über uns drehten sich gelb-schwarze Kickerfiguren auf dem riesigen Display des Dortmunder „U“ um die eigene Achse, der BVB hatte heute ein Heimspiel gegen Hoffenheim. Ich hatte das Gefühl, noch was vergessen zu haben, kam aber nicht drauf, was es war.

„Haben Sie nicht vergessen, nach dem Begriff des Karma zu fragen?“ sagte Richard. „Karma und Reinkarnation sind mutmaßlich Zwillingsgesetze der Evolution: Die Taten, Gedanken und Gefühle der früheren Leben bestimmen - mutmaßlich natürlich auch hier wieder - die Lebensbedingungen der künftigen. Aber auch hier gibt es viele Mißverständnisse, ein zu grosses Thema, um es hier auf der Strasse zu behandeln. - Sehen Sie lieber mal da rüber!“ Er zeigte zum Westentor, wo ein Labradoodle, also eine Kreuzung zwischen Labrador und Pudel, mit seinem offensichtlich blinden Besitzer auf die nächste Grünphase der Fußgängerampel wartete. „Dieser Hund ist sicherlich einer der intelligenteren und sensibleren seiner Unterart. Trotzdem hat er keine Ahnung, was aus menschlicher Sicht auf der Straße, in der Stadt, in diesem Augenblick vor sich geht. Er reagiert nur auf Objekte und deren Bewegungen, Gerüche und Geräusche, und entscheidet, ob sie seinem Besitzer und ihm selbst gefährlich oder nützlich werden können, so wie er das in seiner Ausbildung gelernt hat. Weiß er, wie eines der Autos, die gerade an ihm vorbeibrausen, funktioniert, aus welchen Materialien es hergestellt ist, aus wievielen Einzelteilen, weiß er, wer es bewegt und wodurch, wie komplex es für einen Fahrer ist, einen Führerschein zu erwerben, kennt er das Für und Wider, die Hintergründe der Debatte über den innerstädtischen Nahverkehr – Bus oder PKW, die Interessen der Einzelhändler in der City und so weiter? Natürlich nicht. Er weiß weder daß sein Hundekörper ein biochemisches Kunstwerk ist noch daß  jede Sekunde  Billiarden Neutrinos solaren Ursprungs folgenlos seinen Körper durchqueren, ohne daß er was dagegen machen kann. Dieses Schicksal teilen wir übrigens mit ihm. Nach allem, was wir Menschen wissen, ist er überhaupt zu keinerlei fähig, was wir Gedankenbildung nennen - und trotzdem wird ihm so etwas wie eine „Grundüberzeugung“ innewohnen, daß er alles über die Welt „weiß“, jedenfalls so viel, wie er braucht und das reicht ihm vollkommen aus.“


 „Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinaus wollen“ erwiderte ich. „Jede über seine „Grundüberzeugung“ hinausgehende Vorstellung, die man versuchte, behutsam an ihn heranzutragen, würde er – in menschlichen Begriffen formuliert – entrüstet von sich weisen, sich vielleicht sogar auf Hundeart vor Lachen ausschütten. Wollen Sie nun etwa eine Gleichung aufstellen wie: A verhält sich zu B wie B zu X, also Hund verhält sich bewußtseinsmäßig zu Mensch wie Mensch zu X, wollen Sie darauf hinaus?“

"Sie haben es erraten, darauf wollte ich hinaus. Ja, und was wäre dann X? Vielleicht das, was Ralph Waldo Emerson als „Oversoul“ bezeichnete ...  Noch einmal zum Hund: Vor allem gibt es für den Hund kein „Warum?“ Die Dinge sind eben so und nicht anders ...“

„Basta.“

„Genau, basta. – Aporopo "vor Lachen ausschütten": Nehmen wir ein anderes Beispiel. A (diesmal ein menschliches Wesen) könnte den Vor- und Nach-Namen von B, einem Schachfreund vom Geseker e.V. hören und dann zu diesem sagen: "Schütte dich jetzt bloß nicht vor Lachen aus, Marcel, denn sooo gut ist der Kalauer, den ich gerade mittels deines Vor- und Nachnamens zum Besten gebe, nun auch wieder nicht!"


"Wie, Moment ... ah, ich verstehe, Marcel Schütte heißt der Schachfreund aus dem Sauerland ... muß man aber ´nen Moment drüber nachdenken. Noch geistig wacher wäre wohl jemand, der sagt: „ Bei dem Namen wirst du sicher oft mit vermeintlich „lustigen“ Wortspielereien bedacht, oder?“"


„So ist es. In der Grundvariante spricht A zu B, ohne jede Reflexion, wenn auch auf einem bestimmten sprachlichen Level. In der zweiten Variante beobachtet der Aussagende als ein Dritter die möglichen Interaktionen zwischen A und B von außen. Dies ist eine höhere Stufe der Bewußtheit, der Achtsamkeit, der Betreffende ist nicht mehr selbst als Teilnehmer, als Anredender A, in die Situation verstrickt, sondern betrachtet sie von außen – als C - und stellt sich vor, wie eine solche Anrede auf B wirken könnte. Theoretisch könnte man diese geistige Wachheit beliebig erhöhen oder verlängern mit einer Frage wie etwa: „Wie viele Leute haben dich schon gefragt, wieviele dich schon gefragt haben, wieviele dich schon gefragt haben, wieviele .... wieviele schon zu dir gesagt haben, dü mögest dich nicht vor Lachen ausschütten. denn ...?“


„Richtig."

"Jeder halbe Satz der endlos weiter formulierbaren Frage bedeutet einen höheren Grad an Bewußtheit, Aufmerksamkeit und geistiger Wachheit, an Achtsamkeit, wie Buddhisten es nennen würden. Darum scheint es in der menschlichen Evolution wesentlich auch zu gehen – und sehen Sie sich dazu jüngere und jüngste Entwicklungen an: Die Sprache der Wissenschaft mit dem einhergehenden Anwachsen des Abstraktionsvermögens, die Zunahme von Ironie und Selbstironie in den Medien, also auch der Selbstreflexion, die literarische Postmoderne ...“


„Die Trailer von heute zum Beispiel zu TV-Dokumentationen über die Sechziger, Siebziger, Achtziger mit einer süffisant-ironisch kommentierenden Stimme aus dem Off, wenn zum Beispiel Werner Höfers Gäste im „Internationalen Frühschoppen“ im Tabakrauchnebel kaum noch zu sehen waren ...“


„Genau. Wenn wir doch heute schon wüßten, wie entsprechende Trailer 2040 über uns in den jetzigen Zehner Jahren gemacht würden, ich gäbe was drum.“


„Ich auch.“


„Natürlich ist nicht jede Äußerung, die von einem höheren wacheren Bewußtsein zeugt, praktisch bedeutsam und verwertbar, ich gebe Ihnen sofort ein Beispiel - aber auf das Prinzip kommt es an. Wie gesagt, nicht alles ist praktisch verwertbar, taugt aber später durchaus zur Evokation klarstellender Leserbriefe. Passen Sie auf!“


Beim Reden waren wir Richtung Bahnhof gegangen, traten durch eine Glastür am Eingang (nachdem wir sie vorher aufgeschoben hatten) und strebten zu den Treppen nach unten zur U-Bahn. Zwei Sicherheitsfachkräfte der Deutschen Bahn (DB) lehnten gelangweilt an einer Wand. Ehe ich es verhindern konnte, trat Richard auf die Beiden zu. „Sagen Sie mal, meine Herren, hier sind wir offensichtlich im Hauptbahnhof, den man auch abgekürzt Hbf schreibt – Hbf: eine klare Zuordnung zu je einem Buchstaben des Wortes Hauptbahnhof ist also möglich. Nun sieht man aber in den Randbezirken der Stadt wie auch andernorts Schilder mit der Aufschrift zum Beispiel „Mengede Bhf“ oder „Hörde Bhf“. Was mir keine Ruhe läßt – vielleicht können Sie mir da ja weiterhelfen – ist die Frage: Das Wort Bahnhof enthält unzweifelhaft zwei „h“. Wofür nun steht in der Abkürzung „Bhf“ der Buchstabe „h“, für das erste oder für das zweite „h“, das haben Sie sich doch sicher auch schon gefragt, nicht wahr?“


Die erste Sicherheitsfachkraft stand da mit offenem Mund und starrte nur verblüfft auf Richard Yeti, den bärtigen Riesen im weißen Leinengewand, der ihn mit neugierig-fragendem Blick musterte. Die zweite Kraft war weniger leicht zu beeindrucken und geistesgegenwärtiger: „Ich versteh´ immer nur Bahnhof, aber Sie können ja mal am Info-Point nachfragen.“


„Danke meine Herren, aber da steht ein lange Schlange, so viel Zeit hab ich leider nicht.“ Und zu mir gewandt sagte Richard noch: „Tja, hier trennen sich unsere Wege wohl. Sie müssen da runter, ich nach oben zum RE nach Oberhausen ...“ Er betrat die Rolltreppe zu den Bahngleisen. “Denken Sie aber immer daran“ und hier begann er laut sein Spottlied auf die Vertreter der Isolationstheorie, die angeblich fehlende tiefere Bedeutung des Schachs betreffend, aus seinem Text „Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst“ zu singen: „Schach ist Schach - nanananana - Schach ist Schach – nanananana - Labadabdabdab Schach! - Labadabdabdab Schach!! – Labadabdabdab Schach!!!“

Die DB-Sicherheitsfachkräfte zückten sofort ihre Funkgeräte, sie sprachen hinein ("Wir haben hier einen Achtzehnzwölfer", womit wohl nicht Richards DWZ gemeint war) und sie folgten  Richard Yeti auf die Rolltreppe. Ich blickte ihm nach, sah ihn langsam nach oben rollen, sah als letztes noch seine riesigen Füße, in den weißen spezialangefertigten Mokassins auf zwei verschiedenen Trittstufen stehend,  – und dann war er weg. 

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