Ein bekanntes Möbelhaus im Dortmunder Norden. Besucher A steht sinnierend vor einem Bücherregal. Besucher B. sieht ihn, tritt seitlich neben ihn, mit gleicher Blickrichtung auf das Regal und sagt: „c4“. A hält einen Moment inne ohne aufzublicken, antwortet: „e5“ und geht weiter. Nach wenigen Schritten macht er kehrt, die beiden schütteln sich lachend die Hände, sind alte Schach-Bekannte, die sich hier zufällig getroffen haben. Für den nicht eingeweihten Beobachter dieser Szene mag dies absurd oder zumindest verblüffend erscheinen, doch für geübte Schachspieler erscheint das Gesehene logisch: ein kleiner Spaß, der in Small-Talk mündend bald sein Ende findet, vielleicht aber auch Auftakt zu einer anfänglichen Blind-Partie, die nach Verabschiedung und getrennter Weiter-Wanderung durch die Möbellandschaft per SMS auf dem Smartphone fortgeführt wird und später bei Lachs und Lättöl im hauseigenen Restaurant auf einem realen Brett ins Finale übergeht.

Zug und Gegenzug, Frage und Antwort, ein „Dialog“ - aber eine Sprache? Euer FSV-Präsident Dr. Christian Bommert hat in seinem sehr lesenswerten Artikel „Hoffnung auf göttliche Gnade“ (erschienen in der VMDO-Hauszeitung „Echo der Vielfalt“ Nr. 5, 2016, S.6 ) Schach als eine „Geheimsprache ohne Wörter“ bezeichnet, eine „Weltsprache“, durch die wir „Anteil am geistigen Erlebnis des Anderen nehmen“ können. Dieser Einschätzung kann ich mich nur anschließen, möchte darüberhinaus aber noch ein wenig ins Detail gehen. Versucht man sich einmal klarzumachen, was Züge auf dem Schachbrett bedeuten, so lässt sich zweierlei feststellen: Züge sind gleichzeitig sowohl geschaffene Fakten alsauch Ankündigungen von Zukünftigem. Ersteres findet auf der Handlungsebene stattt, letzteres stellt eine Weitergabe von Informationen dar, die in jedem Zug vorhanden sind – je höher die Spielstärke, umso höher ist die Informationsdichte! In der Schachsprache sind diese Informationen Drohungen des Gegners oder eigene, sich neu ergebende Möglichkeiten. Sehen wir uns solch einen „Dialog“ mal im Detail an:
1. e4 heißt: Ich besetze das Zentrum, nehme Einfluß auf d5 und f5, öffne die Diagonale für meinen weißfeldrigen Läufer und bereite die Möglichkeit für eine spätere kurze Rochade vor.
2. ... e5 ist die Antwort. Ich stelle mich dem weiteren Vormarsch entgegen und verfolge die gleichen Ziele wie Weiß aus seiner Perspektive.
3. Sf3: Ich entwickele meinen Springer, attackiere den Bauern e5.
4. Sc6 Ich entwickele meinen Springer und schütze meinen Bauern auf e5.
5. Lb5 Ich entwickele meinen Läufer, schaffe die Möglichkeit zur kurzen Rochade und attackiere den Sc6 mit der Möglichkeit eines (späteren) Bauerngewinns usw.

Daraus ergibt sich: Die Züge selbst sind keine „Sprache“ nach herkömmlichem Verständnis, sind keine Zeichen, mit denen ein Austausch über individuelle Befindlichkeiten der Gesprächspartner möglich ist, die emotionale Ebene bleibt zunächst außen vor, ebenso wie der Rest der Welt mit Ausnahme des Brettes mit den 64 Feldern und seiner Figuren zwischen den beiden Akteuren – aber ebendieses Brett bietet in den Augen mancher Betrachter Modell-Charakter, bietet eine punktuelle Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, also mit dem sogenannten „richtigen Leben“. Das Ausmaß an Ähnlichkeit oder gar Überereinstimmung wird höchst unterschiedlich bewertet – von manchen als kaum vorhanden betrachtet, von anderen gar als Abbildung metaphysischer Gesichtspunkte auf dem dreidimensionalen Brett – wie auch immer: Fest steht, daß die Parteinahme, ja die Partei-werdung durch Führen der weißen oder schwarzen Steine je nach Spielstand emotionale Prozesse positiver oder negativer Natur auslöst.

Die Spielzüge schaffen also Fakten und enthalten Ankündigungen, die sehr wohl auf das jeweilige Wohlbefinden der Spielenden Einfluß nehmen. Dies weiß jeder, der schon einmal dem „Familienschach“ eines gegnerischen Springers ausgesetzt gewesen ist! Und der Gegner weiß oder ahnt zumindest sehr genau, wie sich sein Gegenüber in diesem Moment fühlen muß, auch wenn dieser trotzig versucht, ein Pokerface aufzusetzen.

Eine Sprache für Regelkundige, für Eingeweihte also, für Spezialisten in einem eng umgrenzten Lebensbereich, ein intellektueller Austausch, ein Ringen um die bessere Idee und das bessere Konzept auf einer stark abstrahierten „karierten Spielwiese“, ein Ringen rein geistiger Natur, welches die Kontrahenten aber durch ihre Partei-werdung, ihre Identifizierung mit ihrer Armee, emotional extrem herausfordern kann und durchaus während einer Partie einem Wechselbad der Gefühle aussetzen kann. Und je höher die Spielstärke, umso größer ist die Fähigkeit, sich in dieser Sprache differenziert auszudrücken, ihr eine individuelle Note und Klangfarbe zu geben. Dem Erlernen dieser speziellen „Sprache Schach“ liegt – wie in den Wort-Sprachen – ein mühsamer jahrelanger Lernprozeß zugrunde – Naturtalente in beiden Disziplinen bilden sicher die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

Eine Sprache für Spezialisten somit – und gleichzeitig, durch die international geltenden Regeln, durch die weltweite Normierung der FIDE, eine Universalsprache, die möglich macht, daß sich ein Inuit mit einem Kongolesen schachlich verständigt (auch wenn über die Raumtemperatur – bei einer direkten Begegnung – vielleicht weniger leicht Einvernehmen hergestellt werden kann). Wäre doch mal Gelegenheit für ein Jahrespraktikum bei eurem DSB mit dem Auftrag: Auflistung aller Partien zwischen Inuits und Kongolesen, nein sagen wir politisch korrekter lieber: zwischen Schachspielern aus Island einerseits und Ecuador andererseits zwischen 1818 und 2018 – private ebenso wie offizielle FIDE-Turnier-Partien sowie alle Internetpartien in einem einzigen großen Turnierhandbuch, welches Weihnachten 2019 unter keinem Schachspieler-Gabentisch fehlen darf. Um damit gleichzeitig die These von der völkerverständigenden Wirkung des Schachspiels zu dokumentieren, denn seit Beginn der Wetteraufzeichnungen sind keine militärischen Kampfhandlungen zwischen beiden Staaten, zwischen Island und Ecuador, bekannt geworden. In diesem Sinne: Gens una sumus! (Eine Familie sind wir!)

Richard Yéti
Dortmund, Phoenix-Ost
01.04.2018

 

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