Teil 2: Blundervermeidung „deluxe“
Oder: Blundervermeidung für Fortgeschrittene

In diesem zweiten Teil werden wir an konkreten Beispielen sehen: Nicht nur am Zielort eines Steines spielt nach einem Zug die Musik, sondern auch am Ausgangsort. Beim Zug Läufer c1 nach g5 nicht nur in der „Gegend“ von f6 usw., sondern auch auf b2. Ein vorher gedecktes Feld ist plötzlich ungedeckt, eine Reihe, Linie oder Diagonale nach dem eigenen Zug nicht mehr in der eigenen Hand, sondern unkontrolliert oder schon in der Hand des Gegners – mit oft fatalen Folgen.
Anfällig wird man als Schachspieler für solche Einseitigkeit in der Betrachtung durch evolutionäre Prägung: Wenn sich zwei Steinzeitkrieger mit jeweils einer Keule in der Hand gegenüberstanden, so war es wichtig, die Schlaghand des Gegners im Auge zu behalten, das heißt, schnell auf eine plötzliche Bewegung des Gegners, auf das Ausholen zum Schlag, zu reagieren, um diesen Angriff parieren zu können. Boxer, die beide Hände benutzen können, machen sich dies zunutze, indem sie oft einen Schlag nur vortäuschen um dann mit der anderen Hand zuzuschlagen. Wie auch immer: Der Mensch ist darauf programmiert, vor allem auf schnelle und heftige Bewegungen mit sofortiger Abwehr zu reagieren und eher unspektakuläre Veränderungen, die gleichzeitig damit verbunden sein können, allenfalls nachlässig zu kontern. Der Steinzeitkrieger – um einmal ein kühnes, zeitalterübergreifendes Bild zu gebrauchen – achtet auf die plötzlich ausholende rechte Schlaghand und übersieht dabei, dass der Gegner mit der linken Hand, verdeckt unter dem Bärenfellumhang, langsam den Stift einer Handgranate herauszieht! Manch einer mag hier lächeln, doch dies ist bekanntlich die Methode, mit der auch Zauberkünstler arbeiten, eben mit Ablenkung der Aufmerksamkeit des Gegenübers.
Auf das Schach bezogen heißt dies: Dieser Mechanismus funktioniert in beide Richtungen. Dem weißen Angreifer, der mit Läufer c1 nach g5 die schwarze Dame attackiert oder einen Springer auf f6 fesselt, entgeht vielleicht die neu geschaffene Schwäche auf b2 (manchmal eine Scheinschwäche, wenn der Bauer vergiftet ist, auch daran immer denken!). Dem weißen Verteidiger kann die „schnelle und heftige“ Bewegung eines schwarzen Läufers zum Verhängnis werden, der von e7 nach b4 zieht.

Denn stellen wir uns folgende Konstellation vor oder stellen sie auf dem Brett auf (mein Hinweis siehe oben!): In der frühen Eröffnungsphase hat Schwarz einen Bauern auf e6, dahinter einen Läufer auf e7 (der typische f6-Springer wurde vielleicht schon im Zentrum getauscht), die weiße Stellung ist hier egal. Entscheidend ist: Macht der Läufer nun den Zug von e7 nach b4, in der Regel entweder mit Schach oder Fesselung eines Springers auf c3, so richtet sich die Hauptaufmerksamkeit des Weißen auf diesen Bereich des Brettes um b4 herum, den linken unteren Quadranten eben, und dies aufgrund der geschilderten evolutionären Prägung. Übersehen wird oft die parallel dazu erfolgende Veränderung, die im Problemschach unter dem Begriff der „Bahnung“ bekannt ist. Eine Figur mit geringerer Durchschlagskraft (hier der Läufer auf e7) zieht voraus – und ebnet damit der hinter ihm stehenden Figur mit größerer Durchschlagskraft den Weg, hier der im Hintergrund „lauernden“ Dame auf d8! Das Gemeine darin ist in unserem Fall, daß beide – Läufer und Dame – auch noch unterschiedliche Ziel- und Bewegungsrichtungen hatten und haben. Der Läufer Richtung Damenflügel, für die Dame auf d8 wird durch den Abzug des Läufers nun der Weg frei zum Königsflügel – je nach der aktuellen Stellung von Weiß kann die Dame im nächsten Zug nach f6, g5 oder auch h4 ziehen, verbunden mit den unterschiedlichsten Wirkmöglichkeiten (auf h2, f2, b2 und möglicherweise auch Doppelangriffen).
Doch solche (mehrzügigen) Drohungen zu sehen, heißt sicherlich, schon mehr als einen bloßen „Blunder" zu vermeiden, deshalb wurde dieser 2. Teil ja auch mit „Blunder deluxe“ übertitelt. Spieler mit noch eher geringerer Spielstärke sollten sich nicht grämen, wenn sie solche mehrzügigen Drohungen noch nicht wahrnehmen können, sondern sich erst einmal anhand des obigen Prüfschemas auf das Vermeiden von einzügigen Figuren- oder Bauern-Einstellern konzentrieren.

Ich komme zum Ende dieses Textes noch zu einer Erscheinung, die man „schleichenden Blunder“, „Blunder in slow motion“ oder mehrzügigen Blunder nennen könnte. Den meisten Leserinnen und Lesern wird das Prinzip geläufig sein, im eigenen Lager durch Kontakt zwischen Figuren und/oder Bauern untereinander den eigenen Steinen gegenseitig Schutz zu gewähren, z.B. bei zwei Springern, die auf d7 und f6 stehen und sich gegenseitig decken.

Man stelle sich nun einen schwarzen Läufer auf d7 vor (oder stelle ihn auf dem leeren Brett dorthin), der vertikal auf der d-Linie durch einen schwarzen Bauern auf d6 gegen Angriffe gegnerischer Schwerfiguren geschützt ist – und dazu noch dreifach gedeckt, durch den König e8, die Dame d8 und einen Springer auf f6. Was soll diesem Läufer schon Schlimmes passieren? Wenn Schwarz aber nun kurz darauf – so geschehen in einer Kreisliga-Partie (FS98_2015-16.pgn, Partie Nr.169, nach 7. ... Lc8-d7) – nacheinander zwei „Angriffszüge“ macht, nämlich die Dame nach b6 zieht und den Springer nach g4, hängt die Deckung des d7-Läufers nur noch am Ke8. ABC Diagramm1Dieser rochiert kurz, der Bauer auf d6 wird mit c4-c5 ausgehebelt und Schwarz verliert wenige Züge später zwangsläufig einen partieentscheidenden Bauern (bitte die Partie nachspielen, am besten am PC mit Kiebitzfunktion, um das Prinzip zu begreifen, es lohnt sich). Hier lag die Ursache des Materialverlustes weniger an einem einzigen Zug (der schwarzen Rochade), sondern eher daran, daß Schwarz das Risiko des fortlaufenden Kontaktabreißens zum d7-Läufer nicht realisiert hatte und folglich die Brisanz des eigentlich harmlos anmutenden eigenen Rochadezuges nicht begreifen konnte. Es ähnelt dem Prinzip der doppelten Buchführung in der Wirtschaft, wo jeder Firmen-Geschäftsvorgang zweifach als Soll und Haben, unter Aktiva und Passiva, verbucht wird. Schwarz hatte nur die Wirkung seiner Angriffszüge im Sinn (Druck auf den gegnerischen Bauern auf f2) und ließ dabei außer Acht, was er damit an Defiziten im eigenen Lager schuf.

Es dürfte interessant sein, etwa von unseren Spielern der ersten Mannschaft zu erfahren, mit welchen Methoden sie jeweils das Erkennen und Beachten solcher entstehenden Defizite in ihren eigenen Partien zu gewährleisten suchen (wenn sie ihre Methoden denn verraten wollen). Allerdings ist man auch auf diesem Spielniveau nicht immer vor solchen Fehleinschätzungen gefeit, wie das folgende Beispiel aus der Verbandsliga (FS98_2015–16.pgn, Partie Nr.11) zeigt: 

ABC Diagramm2Schwarz zog im 12. Zug seine Dame von d8 nach c8. Er deckte damit seinen Läufer auf b7, ließ aber gleichzeitig den Kontakt der Dame zum Läufer auf – diesmal – e7 abreißen. Mit einer ähnlichen kleinen Kombination wie im vorangegangenen Beispiel (Läufer e4 schlägt auf b7, dann Bauernhebel d4-d5) hätte Weiß einen vielleicht schon partieentscheidenden Bauerngewinn erzielen können, wie die Kiebitzfunktion eurer Schach-PC-Programme deutlich machen wird. Doch auch der Gegner hatte diese Möglichkeit übersehen, hatte vielleicht in diesem frühen Partiestadium nicht mit solch einer Gelegenheit gerechnet und war mehr darauf aus gewesen, dem Kontrahenten „einen Isolani zu verpassen“, so daß die Partie eine andere Wendung nahm und später Remis ausging.

Noch einmal anders formuliert: Hat der Gegner gezogen, so wäre die erkenntnistheoretisch beste Frage: Hat sich dadurch die Wirkungsmöglichkeit eines oder mehrerer Steine auf dem Brett geändert,  wenn ja in welcher Weise und wie ändert sich dadurch auch der Gesamtzusammenhang der Stellung? Diese sehr abstrakte Frage herunterzubrechen in konkrete Fragen eines Prüfungsschemas war Ziel dieses sich nun dem Ende zuneigenden Textes.

 

Nach all diesen (ober)lehrerhaften Ausführungen müßte der 2. Spielleiter eigentlich mit Schrecken seinem - unweigerlich irgendwann kommenden – nächsten eigenen Blunder entgegensehen, der ihm dann mit Sicherheit von dem Einen oder Anderen von Euch mit hämischen Grinsen unter die Nase gerieben werden wird. „Hältst wohl nicht viel von deiner eigenen famosen Checkliste, was?“ könnte die Frage dann lauten, wobei – als letzte Rettung – nur die Antwort bleibt: “Die hab ich doch auch deshalb geschrieben, damit ihr was zu lachen habt ... wenn ich mal wieder blundere!“

 


In diesem Sinne!
Udo R.

 

Wir benutzen Cookies
Cookies optimieren die Funktion dieser Website. Mit dem Besuch unserer Homepage geht das Einverständnis in die Verwendung von Cookies einher.