Immer nur Remis, da schaut doch keiner mehr zu? Stimmt ja nicht. Zwei Beschwerden über das WM-Duell zwischen Ding Liren und Gukesh im Faktencheck
Wenn der Schachreporter in Singapur in seinen Messenger-Account schaut, wie die WM 10.000 Kilometer entfernt in seinem Hamburger Schachverein wahrgenommen wird (und in einigen deutschen Medien), kann er sich über zwei Beschwerden nur wundern.
Beschwerde Nummer eins: Die spielen ja immer nur remis, wie langweilig.
Nun, Faktencheck: Gleich die erste Runde in Singapur geht an Weltmeister Ding Liren, die dritte an seinen Herausforderer Gukesh. Seitdem sieben Remis, also insgesamt acht.
Vergleicht man das mit den Ergebnissen des Ex-Weltmeisters Magnus Carlsen, ist festzustellen: Carlsen hat in den drei WM-Kämpfen von 2016 in New York (gegen Sergej Karjakin), 2018 in London (gegen Fabiano Caruana) und 2021 (gegen Jan Nepomnjaschtschi) in 29 aufeinanderfolgenden klassischen Partien 27-mal remis gespielt. Gewonnen oder verloren hat er nur je einmal.
Da hat der aktuelle Weltmeister Ding in den 24 WM-Partien seit der WM in Astana 2023 eine abwechslungsreichere Bilanz: 8 Siege oder Niederlagen, 16 Remisen. Die Klage über die Remislastigkeit entbehrt, jedenfalls im Vergleich zu Carlsen, jeder Grundlage.
Zudem ist ein Remis nicht per se langweilig. In Singapur sieht man in der siebten Partie den bisherigen Höhepunkt des Matches: eine geradezu magische Verteidigungsleistung Dings, weltmeisterlich gespielt. Der Mann aus China hat Schwarz, keine Zeit mehr und steht von Zug zu Zug schlechter. Der junge Inder hat nach einem Angriff einen Freibauern auf der Außenlinie, der kaum noch zu stoppen ist. Den Sieg vor Augen, unterlaufen ihm ein paar kleine Ungenauigkeiten.
Ding erkennt seine Chance und kann die verlorene Stellung in wenigen, schwer zu findenden Zügen ausbalancieren. Zwanzig Züge lang hat sein Damenspringer perspektivlos auf der Grundreihe gestanden. Plötzlich kommt er über die Seite in die Brettmitte geprescht, von wo aus er in alle Richtungen springt und mit König und Turm so kraftvoll zusammenwirkt, dass die furchtbare Bauernstellung von Schwarz an Bedeutung verliert. Gukeshs weißfeldriger Läufer, eben noch dominant, büßt seine Wirkung ein; der weiße König gerät in Bedrängnis.
Im Ballsaal des Equarius Hotel zieht der spektakuläre Schwenk alle in den Bann. Jeden, der selber spielt, fasziniert dieses im Handumdrehen hergestellte Miteinander der schwarzen Figuren, und allen ist klar, dass es – bei Dings Mangel an Bedenkzeit – weniger auf Berechnung beruht als auf Einfühlung. Ding spürt den Magnetismus der Felder. Könnte man selber das doch auch!
Die achte Partie steht der siebten kaum nach. Im Mittelspiel ergeben sich Varianten, die vom schachbegeisterten Publikum nur noch als Dschungel wahrgenommen werden. Niemand blickt hier mehr durch, wie können das die beiden Akteure? Wer sich im Presseraum die Analysen der mitlaufenden Rechner anschaut, sieht verblüfft, dass selbst die Elektronengehirne in ihren Bewertungen oszillieren, mit jedem Halbzug, den sie tiefer in die Stellung eindringen. Actionkino, wie man es in Carlsens WM-Partien kaum je gesehen hat.
Der Grund dafür mag darin liegen, dass Carlsen, je länger er Weltmeister war, umso heftiger versucht hat, aus der Eröffnung heraus alles zu kontrollieren. Seine Vorbereitung wurde immer umfangreicher, sein Sekundantenteam, das ihn bei der Vorbereitung unterstützte, immer größer. Bei der WM in Dubai 2021 arbeitete es sogar Tausende Kilometer entfernt in Thailand, um in einer anderen Zeitzone tätig werden zu können, während der Weltmeister schläft. Zum Kampf in Dubai reiste Carlsen mit Leibarzt, Leibkoch und dem Hypeman an, einem schachunkundigen Hofnarren zur Erzeugung königlichen Vergnügens. Carlsen wollte nichts dem Zufall überlassen, um ja nicht zu verlieren. Er trieb die WM-Präparation auf die Spitze – bis sie seine Lust am Spiel tötete. Dann trat er zurück.
So viel zu den Remisen.
Nun zur Beschwerde Nummer zwei: Die WM ist so langweilig, die will ja kaum einer mehr kucken.
Lustigerweise erzählt im WM-Presseraum gerade während der zehnten Partie am Samstag – die remis ausgehen wird – der Chef des niederländischen Übertragungsteams von seiner Überraschung, wie stark das Interesse im Netz angewachsen sei. Dreimal so viele Leute würden den Livestream der Weltschachorganisation Fide aus Singapur verfolgen wie noch bei der WM in Astana. Und die Zahlen seien sogar besser als die bei Carlsens letzter WM.
Nun, Faktencheck: Schaut man auf dem YouTube-Kanal der Fide unter der Rubrik "Beliebt" die Streamklicks nach, dann sind unter den Top zwölf der ewigen Bestenliste acht Übertragungen aus Singapur. Carlsens letzter WM-Kampf ist nur zweimal vertreten.
Man könnte mal recherchieren, welche Gründe das hat. Vielleicht treibt das indische und chinesische Publikum die Zahlen hoch, gibt ja sehr viele Inder und Chinesen. Vielleicht lässt das Interesse des westlichen Publikums zudem nicht so sehr nach, wie die Carlsen-Fans glauben.
Carlsen selber, der zu Beginn der WM in Singapur war, sich aber demonstrativ nicht blicken ließ, kommentiert inzwischen das Geschehen auf seiner neuen App Take Take Take, und findet nach anfänglichem Genörgel nun sogar auch lobende Worte.
In der Schach-WM steht es 5 zu 5. Die elfte Runde beginnt am Sonntag um 10 Uhr deutscher Zeit. Alle Berichte unseres Reporters Ulrich Stock von der Schach-WM in Singapur lesen Sie hier. Der Großmeister Niclas Huschenbeth liefert zudem für ZEIT ONLINE Videoanalysen aller Partien zu.
https://www.zeit.de/sport/2024-12/schach-wm-ding-liren-gukesh-10-partie-unentschieden